Geschichte Österreichs. Walter Pohl L.
Ausbreitung der Slawen zusammen. Das ist ein Prozess, über den wenig bekannt ist, der aber in der gesamten Osthälfte Europas und auch in Ostösterreich nachhaltige Konsequenzen hatte. Im Lauf des 6. Jahrhunderts, schon vor der awarischen Machtübernahme, erscheinen Slawen zunehmend in den Quellen: zunächst nördlich der unteren Donau, aber auch am Nordrand des Karpatenbeckens. Anders als Steppenvölker und germanische Gentes bildeten die frühen Slawen zunächst keine hierarchisch organisierten Reiche mit privilegierter Kriegerschicht; sie waren auch offen für die Integration fremder Bevölkerungsgruppen, die unter den Slawen als freie Menschen leben konnten. Wahrscheinlich erklärt gerade das die erstaunlich rasche slawische Ausbreitung. In awarischen Heeren sind sie gut bezeugt; unter anderem führten sie 626 in ihren Einbäumen über das Goldene Horn den entscheidenden Sturmangriff auf Konstantinopel, der blutig scheiterte. Zunehmend operierten sie aber auch auf eigene Faust auf der Balkanhalbinsel, wo sie sich spätestens ab 600 in vielen Gebieten niederließen. Gegen Ende des 6. Jahrhunderts drangen sie auch in den Ostalpen vor. Wir wissen, dass der bayerische Dux Garibald II. um 610 bei Aguntum gegen Slawen kämpfte. Dem gingen zwei Schlachten in den Jahren 592 und 595 zuvor, deren erste die Bayern noch gewannen, während sie in der zweiten von awarischen Verstärkungen der Slawen schwer geschlagen wurden. Am naheliegendsten ist, dass auch diese Kämpfe irgendwo im südlichen Noricum stattfanden, wo die Bayern vergeblich versuchten, die Ausbreitung der Slawen aufzuhalten. Gegen Ende des 6. Jahrhunderts ist in breitem Raum zwischen Noricum und Dalmatien bezeugt, dass Bischöfe ihre Bistümer verließen und anderswo Zuflucht suchten (auch die Bistümer von Virunum, Teurnia und Aguntum wurden aufgegeben). Archäologisch ist vielerorts fassbar, dass Höhensiedlungen (etwa der Hemmaberg) verlassen wurden, die Spuren spätantik-christlicher Kultur verlieren sich im 7. Jahrhundert fast völlig. Das muss nicht heißen, dass die Vorbevölkerung als Ganzes verschwunden ist, viele Kärntner Ortsnamen bezeugen ein gewisses Fortleben romanischer Bevölkerungsgruppen.
Im raetischen Alpenraum und im westlichen Noricum hielt sich die romanische Besiedlung hingegen in vielen Gegenden bis tief ins Mittelalter. Die Bischöfe von Chur behaupteten bis in die Karolingerzeit eine weitgehende regionale Selbständigkeit, die auch Romanen in Vorarlberg einbezog. Dort hatte auch das im 7. Jahrhundert gegründete Kloster St. Gallen Einfluss, wie der dort seit dem 8. Jahrhundert erhaltene einzigartige Bestand von Originalurkunden zeigt. In Südtirol blieb Säben, gelegen auf einem markanten Felssporn über den Klausen im Eisacktal, Bischofssitz; eindrucksvolle Reste der Kirche des 6. Jahrhunderts sind hier noch erhalten. Nordtirol blieb Durchgangsraum zwischen Bayern/Franken und Italien; spätantike Kirchen sind u. a. in Pfaffenhofen, Zirl oder Ampass erhalten, und das Tiroler Inntal wurde erst spät bayerisch besiedelt. Die Quellen des 8. Jahrhunderts belegen eine differenzierte Romania südlich von Salzburg, die noch heute an einer Reihe romanischer Ortsnamen sichtbar wird, etwa Cucullis/Kuchl oder Albina/Oberalm. Im Rottachgau bei Passau (am ehesten östlich des Inns) bezeugt ein Urkundenfragment des 8. Jahrhunderts römische Funktionsbezeichnungen, Personen- und Ortsnamen. Die germanisch-/deutschsprachigen Nachbarn nannten die Romanen Walchen/Welsche, eine uralte Fremdbezeichnung, die auch in den Namen der Waliser, Wallonen oder Vlachen steckt. Eine Reihe von westösterreichischen Ortsnamen zeigt, dass hier lokale Romanengruppen von ihren deutschsprachigen Nachbarn so genannt wurden, darunter der Walchen- und der Wallersee, Seewalchen und Strasswalchen.
Im 7. Jahrhundert war der Raum des heutigen Österreich ein dünnbesiedeltes Randgebiet, in dem benachbarte Mächte – Awaren, Bayern, Langobarden, Alemannen – zum Großteil bloß indirekte Kontrolle ausübten. Der Ostteil einschließlich des südöstlichen Oberösterreich und Salzburg wurde zunehmend slawisch besiedelt, wobei der genaue Ablauf kaum zu rekonstruieren ist. Archäologisch ist das 7. Jahrhundert eine Zeit weitgehender Fundleere in vielen Gegenden, bis auf einige Ausnahmen, etwa die recht zahlreichen awarischen Siedlungen und Gräberfelder im Osten (Mödling, Zillingtal, Sommerein sind z. B. archäologisch sehr gut erschlossen). Hier finden sich kaum spezialisierte Steppenkrieger, sondern sesshafte Bauern, die immerhin teils mit Grabbeigaben bestattet wurden, was einen gewissen Wohlstand voraussetzt. Ob diese Menschen recht einheitlich »awarischer« Kultur im engeren Herrschaftsbereich der awarischen Khagane des 7. und 8. Jahrhunderts sich auch als Awaren verstanden und welche Sprache sie sprachen, ist ungewiss; manches deutet darauf hin, dass damals Slawisch Verkehrssprache im Khaganat war (wie es später auch im bulgarischen Khanat der Fall war). Die Slawen pflegten bis ins 8. Jahrhundert meist Brandbestattung, was ihren archäologischen Nachweis erschwert.
Nur wenige Nachrichten in schriftlichen Quellen werfen im 7. und früheren 8. Jahrhundert Schlaglichter auf den Ostalpen- und Donauraum. Mehrfach werden die Slawengebiete im Osten als Ziel von Missionaren aus dem Frankenreich erwähnt; doch meistens resignierten die Glaubensboten schon, bevor sie ihr Ziel erreichten. Der irische Klostergründer Columban etwa wandte sich um 610 von Bregenz, wo er angeblich einen dem Wodan geweihten Bierkessel zum Zerspringen brachte, nach Italien, da eine Engelserscheinung ihn von der Slawenmission abhielt; dieser Raum sei wüst und leer. Um 630 wurde das Awarenreich von heftigen inneren Konflikten erschüttert. Zunächst kam es 623/624 in der westlichen Peripherie des Khaganats zur Sezession einer slawisch-awarischen Gruppe unter Führung des fränkischen Kaufmanns Samo, der zunächst die Awaren und bald nach 630 einen Angriff des Frankenkönigs Dagobert I. abwehren konnte. Das Zentrum des Samo-Reiches, das sich einige Jahrzehnte lang behauptete, lag wahrscheinlich in Böhmen (worauf die direkte Konfrontation mit den Franken und der spätere Anschluss der Sorben an der mittleren Elbe deuten). Um 630 beanspruchten bulgarische Kontingente im Awarenheer die Khaganswürde, unterlagen aber, worauf Tausende von ihnen Zuflucht bei den Bayern suchten. Dort wurde ein Großteil der Exilanten auf Befehl des Frankenkönigs Dagobert niedergemetzelt, nur einige hundert unter Führung eines gewissen Alciocus suchten Zuflucht in der Marca Winedorum, der Wendenmark (Winedi ›Wenden‹ war die germanische Fremdbezeichnung für die Slawen). Dieses slawische Grenzgebiet muss wohl das spätere Karantanien gewesen sein, von wo die Bulgaren nach Jahrzehnten ins langobardische Italien weiterzogen. Slawisch-langobardische Scharmützel sind mehrfach aus Friaul überliefert, von wo aus längere Zeit eine slawisch besiedelte regio Cellia (das untere Gailtal?) kontrolliert wurde. Trotz der Schwächung des Awarenreiches nach 626 gelang es den westlichen Nachbarn – Franken, Bayern und Langobarden – damals nicht, ihren Einfluss weiter nach Osten auszudehnen. Nachrichten über Bayern fehlen im übrigen aus dem 7. Jahrhundert fast völlig.
Erst im 8. Jahrhundert wurde das bayerische Herzogtum, das von der Familie der Agilolfinger regiert wurde, wieder vollständig in die westliche Christenheit integriert. In Zusammenarbeit mit den bayerischen Herzögen, aber wiederholt auch in Konflikt mit ihnen wirkten die heiligen Männer Emmeram in Regensburg und Corbinian in Freising. In Salzburg schuf um 700 der aus dem Rheinland gekommene Rupert mit den Klöstern von St. Peter und auf dem Nonnberg die Grundlagen des künftigen Bistums, wobei unklar ist, wie weit er auf ältere Strukturen zurückgreifen konnte. Jedenfalls stützte er sich nicht zuletzt auf begüterte romanische Familien wie die genealogia de Albina in Oberalm. 711/712 wurde in Bischofshofen, an der Grenze zum Slawengebiet, die Maximilianszelle gegründet und damit eine politische wie kirchliche Ausdehnung nach Südosten vorbereitet. Der vom Papst entsandte Angelsachse Winfrid/Bonifatius bemühte sich, teils in Konkurrenz mit Vertretern der Ortskirchen, um den Aufbau einer bayerischen Bistumsorganisation; 739 wurden endgültig die Bistümer Regensburg, Passau, Freising und Salzburg eingerichtet. Unter Bischof Virgil (reg. 747/749–784), einem Iren, der zuvor einige Zeit am Hof des späteren Königs Pippin III. verbracht hatte, wurde Salzburg zu einem Zentrum von Bildung, Schriftlichkeit und Mission. Ab nun werden die Verhältnisse im österreichischen Raum relativ kontinuierlich, wenn auch zunächst sporadisch von im Raum selbst produzierten schriftlichen Texten beleuchtet. Das Salzburger Verbrüderungsbuch enthält eine lange Liste von Mönchen, Klerikern und Unterstützern der Salzburger Kirche; die um 800 redigierten (teils auf älteren Vorlagen beruhenden) beiden Salzburger Güterverzeichnisse (Notitia Arnonis und Breves Notitiae) bezeugen den zunehmenden Reichtum der Salzburger Kirche und die Bemühungen um dessen effiziente Verwaltung; und die Vita des heiligen Rupert beleuchtet die Anfänge der Salzburger Kirche.
Unter Dux Odilo (gest. 748) und seinem Nachfolger Tassilo III. (reg. 748–788) wurde das eher nominell vom Frankenreich abhängige bayerische Herzogtum auch außenpolitisch aktiver. 741/742 entsprach Odilo der Bitte der Karantanen unter dem Fürsten Boruth um Hilfe gegen die Awaren und nützte den errungenen Sieg dazu,