Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit. Marie Brennan

Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit - Marie  Brennan


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kontaktieren, und zwar nicht, weil sie es nicht versucht hatten. Doch die Frau konnte im Traum zu ihm kommen.

      Also verlieh sie sich selbst das Gesicht, die Stimme, die Art von Annie Marshall und sagte Myers, was der Mann laut Nadrett hören sollte. Dass es Leute gäbe, die ihm helfen könnten. Dass er sie aufsuchen müsse und sie ihm die Beweise geben würden, die er so brennend ersehnte, Beweise, dass der Geist nach dem Tod weiter bestehen konnte. Dass ihr Selbstmord weder bedeutete, dass sie für immer von ihm fort wäre, noch dass sie in irgendeine quälende Hölle verdammt worden wäre. Er würde all die Versicherungen bekommen, die er sich wünschen konnte, solange er die Fremden fände und mit ihnen teilen würde, was er wusste.

      Tränen strömten über Myers’ schlafendes Gesicht, als das Mondlicht Cyma in das verteidigungslose Reich seiner Gedanken trug.

      Er war nicht der erste Mann, auf den Nadrett sie angesetzt hatte. Aber bei diesem hier war sie sicher, dass sie Erfolg haben würde. Er war das perfekte Ziel: ein gelehrter Spiritist, der mit ähnlich gelehrten Freunden verkehrte, aber im Herzen verwundet, wie die anderen es nicht waren. Sobald Nadrett ihn hätte, wäre der Herr sicher zufrieden, und Cymas Schulden wären beglichen.

      Vielleicht wäre sie sogar schon nächsten Monat frei.

      Sie glaubte es, wie Myers an den Geist von Annie Marshall glaubte, und aus demselben Grund. Weil die Hoffnung sie aufrecht hielt, egal wie unmöglich sie sein mochte.

      ADELAIDE ROAD, PRIMROSE HILL

       6. April 1884

      Das Dämpfen der Gaslampen hatte dem Raum eine kühle, grabähnliche Atmosphäre verliehen. Draußen war die Nacht in Nebel gekleidet, und der Mond spielte hinter den Wolken Verstecken. Wind rüttelte von Zeit zu Zeit an den Fensterläden und schuf ein leises Seufzen im Kamin. Kurzum, es war so, wie ein Dichter sich eine Nacht für eine Séance ausgemalt hätte.

      Cyma hoffte, dass es das Medium zu Höchstleistungen inspirieren würde. Mrs. Iris Wexford war typisch für ihre Sorte: die Ehefrau eines Vikars in Aylesbury, jenseits ihrer fruchtbaren Jahre und von ihrem respektablen Leben wahnsinnig gelangweilt. Sie war fest davon überzeugt, dass Spiritismus das Heilmittel für alle Makel des Christentums war, dass er die Bibel rechtfertigte, statt sie zu widerlegen, wie manche behaupteten.

      Wie die meisten von ihrer Sorte war sie wahrscheinlich ein Scharlatan. Aber Frederic Myers hegte große Hoffnungen für sie, und deshalb war Cyma hier.

      Sie spielte mit dem Gedanken, dass es Schicksal war, ihn wiederzutreffen. Sobald Myers durch seine Träume gründlich gefangen genommen worden war, hatte Nadrett allen Kontakt mit dem Mann übernommen und Cyma ausgeschlossen. Ohne Brot, um sie zu schützen, hatte sie keine Möglichkeit gehabt, ihn zu besuchen, und so war Myers mit der Zeit aus ihren Gedanken verschwunden: ein weiterer Sterblicher, der in Feenangelegenheiten verwickelt war und wahrscheinlich nicht heil herauskommen würde.

      Oder, was das betraf, überhaupt herauskommen. Dass Frederic Myers immer noch ein freier Mann und nicht der verrückte Sklave von irgendjemandem auf dem Goblinmarkt – oder tot – war, verriet ihr, dass Nadrett ihn noch nicht losgelassen hatte, noch nicht gänzlich. In diesem Fall wiederum wäre es viel sicherer für Cyma gewesen, Abstand zu halten. Sie war endlich beinahe von Nadrett befreit und hatte kein Verlangen, wieder in die Falle zu geraten. Aber Myers hatte sie mit seiner melancholischen Trauer und unsterblichen Hoffnung, seine verlorene Liebe wiederzusehen, fasziniert, und sie konnte die Chance nicht verstreichen lassen, herauszufinden, welchem Pfad er jetzt folgte.

      Ganz demselben wie damals, als sie ihn kennengelernt hatte, wie es schien. Er prüfte Medien und hoffte, eines zu finden, das an seiner statt mit der verstorbenen Annie kommunizieren konnte. Jetzt saß er mit seinen Freunden Henry und Eleanor Sidgwick und verschiedenen anderen, die Cyma nicht kannte, um den Tisch. Anders als jene ersten beiden waren die anderen keine Mitglieder der neuen Gesellschaft für Psychische Forschung. Sie hatte sich ihnen als eine gewisse »Miss Harris« angeschlossen und saß jetzt da, wobei ihre Aufmerksamkeit mehr auf Myers als auf Mrs. Wexford gerichtet war. Er hatte sich nicht verändert: immer noch dieselbe zitternde Begierde in seinen aufgerissenen Augen, seinen leicht geöffneten Lippen, als Mrs. Wexfords Kopf nach hinten gegen ihre Stuhllehne sank.

      Mit einer heiseren Stimme sagte das Medium: »Ich fühle, wie die andere Welt näherkommt!«

      Miss Harris war in diesen Dingen natürlich nicht im Geringsten zynisch. Miss Harris hatte ihre eigenen Geister, die sie unbedingt sehen wollte. Insbesondere einen toten Verlobten, nach dem sie sich immer noch sehnte. Das bedeutete, dass Mr. Myers und sie etwas gemeinsam hatten. Aber Cyma war unter ihrer menschlichen Maske ungeduldig. In der Zeit, als sie bei Myers gespukt hatte, hatte sie mehr als genug gelangweilte Hausfrauen ähnliche Rollen spielen sehen – hatte einige sogar als Betrügerinnen enthüllt, wenn sie sie zu sehr genervt hatten –, und ihre anfängliche Aufregung war schon lange verflogen. Sie hielt diese Langeweile nur wegen der erneuten Verbindung zu Myers aus, die sie nutzen konnte, sobald sie von Nadrett befreit war.

      Dann verflog die Langeweile ohne Vorwarnung, und jedes Härchen in Cymas Nacken richtete sich auf. »Ein Kind«, flüsterte Mrs. Wexford. »Ein kleiner Junge – oh, er ist wie ein Engel.«

      Auf der anderen Seite des Tisches riss eine der Anwesenden, eine ältere Frau, deren Namen Cyma vergessen hatte, ihre Hände aus dem Zirkel und schlug sie vor den Mund, während ihr Tränen in die Augen traten. Sidgwick, der zur Rechten der Frau saß, richtete sofort einen misstrauischen Blick auf sie. Er war viel weniger gutgläubig als Myers und wusste, dass solche Bewegungen oft als Deckung für Tricks benutzt wurden. Seine Frau Eleanor hielt ihre Aufmerksamkeit auf Mrs. Wexford, falls die aufgewühlte Frau stattdessen eine Ablenkung für das Medium war.

      Aber falls jene beiden irgendwelche Tricks geplant hatten, hätten sie sich die Mühe sparen können. Cyma wusste es, wenn sie in der Präsenz eines echten Geistes war.

      Mrs. Wexford erschauderte, dann fing sie an, in einem hohen Tonfall zu sprechen. Aus dem Gespräch, das sich zwischen dem Medium und der weinenden alten Frau entwickelte, erfuhr Cyma, dass dies der älteste Sohn der Frau war, der vor Jahren gestorben war, als sich eine Infektion von einem faulen Zahn ins Gehirn ausgebreitet hatte. Neben ihr spürte sie, wie Myers stumm seufzte. Wieder einmal war seine verlorene Geliebte nicht aufgetaucht.

      Cyma fragte sich, wie die Medien es machten – wie sie bestimmte Geister herbeiriefen, die schon lange fortgegangen waren. Regelmäßige Erscheinungen waren eine Sache und die kürzlich Verstorbenen eine andere. Beide waren deutlich weniger häufig als in vergangenen Jahrhunderten, aber sie zu kontaktieren, war für Leute mit Talent nie schwierig gewesen. Der Geist des kleinen Jungen allerdings musste bereits weitergezogen gewesen sein. Wie hatte Mrs. Wexford ihn zurückgerufen? Eines von zahllosen Geheimnissen der menschlichen Seele, deren Antworten sie sich nicht vorstellen konnte. Cyma war keine Wissenschaftlerin der Akademie, aber manchmal verstand sie, was jene so faszinierte.

      Ihr Interesse steigerte sich, als sich etwas in der Luft hinter Mrs. Wexford bildete. Dessen Form war vage, aber es hatte die richtige Größe, um ein kleiner Junge zu sein. Cyma hielt die Luft an, während sich ihre Zähne tief in ihre Lippen gruben. Wahre Erscheinungen waren selten, wahre physische Manifestationen hätten ebenso gut Einhörner sein können. Real, aber in diesem Zeitalter beinahe nie beobachtet. Myers hatte doch noch ein echtes Medium für sich gefunden.

      Bei diesem Gedanken glitt seine Hand aus ihrem Griff. Sidgwick und er hatten versprochen, dass diese erste Séance keine Art förmlicher Test sein würde – zu viele Medien wurden nervös und scheiterten daran, überhaupt etwas hervorzubringen, wenn sie wussten, dass Wissenschaftler jede ihrer Bewegungen untersuchen würden –, aber wie es schien, hatte Myers’ Neugierde ihn überwältigt, denn er durchquerte den Abstand mit zwei schnellen Schritten und streckte seine Hand zu der Manifestation aus, die in der Luft Gestalt annahm.

      Diese verschwand mit einem erschrockenen Zucken, und Mrs. Wexford riss die Augen auf. »Ich … was …«

      Sie wirkte ehrlich desorientiert, was manchmal vorkam. Die alte Frau, die ihren Sohn verloren hatte, brach in Tränen aus. Eleanor


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