Der kleine Fürst Staffel 5 – Adelsroman. Viola Maybach
der kleine Fürst auf den Weg zu dem kleinen Hügel am hinteren Ende des Schlossparks, kurz bevor der Wald begann. Dort, auf dem Familienfriedhof, hatten seine Eltern ihre letzte Ruhe gefunden, und dort besuchte er sie jeden Tag.
Togo kannte den Weg, er wusste immer, wann Christian auf den Hügel wollte, und so lief er munter voran. Wie üblich lag er schon vor der Gruft, als Christian eintraf. »Heute habe ich euch viel zu erzählen«, sagte er in Gedanken zu seinen Eltern. »Ich glaube, es wird euch gefallen zu hören, dass sich Clara und der Graf aus St. Petersburg endlich gefunden haben. Anna und ich wussten ja schon vorher, dass sie ineinander verliebt waren, aber Tante Sofia wollte uns nicht glauben. Und dann ist da noch die Geschichte mit Leonids Tante …«
Er ließ sich Zeit bei diesem Besuch, es gefiel ihm, auf diese Weise an seine Eltern zu denken, sich vorzustellen, wie sie ihm dort, wo sie sich jetzt befanden, zuhörten – und er war sicher, dass sie sich für alles, was er ihnen zu erzählen hatte, interessierten. Endlich sagte er: »Das war alles, wir sehen uns morgen wieder.«
Sobald er laut redete, war dies das Signal für Togo, aufzuspringen und zurückzulaufen. Wie üblich folgte Christian ihm langsamer. Er stand noch auf dem Hügel und sah hinunter in den Schlosspark, als er in einiger Entfernung zwei Menschen entdeckte. Zuerst dachte er, es seien Clara und Leonid, doch dann stellte er fest, dass es sich um Irina und Johannes handelte. Er drehte sich noch einmal zur Gruft um. »Das gibt auch eine Liebesgeschichte«, murmelte er.
Im selben Moment blitzte die Sonne auf, die sich bis dahin hinter Wolken verborgen hatte. Christian nahm es als Zeichen seiner Eltern und lächelte. »Ich wusste, das würde euch freuen!«
Unten im Park zog Johannes Irina in seine Arme und küsste sie, während der kleine Fürst langsam den Hügel hinunterschlenderte.
– ENDE –
»Um es kurz zu machen, Fritz: Wir wissen nicht weiter«, sagte Adalbert von Barrentrop zu Baron Friedrich von Kant. Er war an diesem Samstag allein nach Schloss Sternberg gekommen, nachdem er zuvor telefonisch um ein Gespräch unter vier Augen mit dem Baron gebeten hatte. »Caroline ist mit ihren Nerven am Ende, und wenn ich ehrlich sein soll: Bei mir ist es genauso. Wir haben vier Kinder, drei von ihnen haben ihren Weg gefunden, aber ausgerechnet unsere Jüngste bereitet uns seit Jahren vor allem Kummer.«
»Wir haben Julietta sehr lange nicht gesehen«, erwiderte der Baron nachdenklich. »Aber sie war doch ein reizendes Kind, Bert!«
Die buschigen Augenbrauen seines Besuchers zogen sich in die Höhe. »War sie das?«, brummte er. Adalbert war ein massiger Mann, der sich dennoch erstaunlich schnell und elegant bewegte. Er war gut zehn Jahre älter als Friedrich von Kant, im vergangenen Jahr hatte er seinen einundfünfzigsten Geburtstag gefeiert. Seine dichten dunklen Haare waren nur von vereinzelten Silberfäden durchzogen, die ebenfalls dunklen Augen schienen einem sehr viel jüngeren Mann zu gehören. »Du wirst es nicht glauben, aber ich habe tatsächlich Mühe, mich daran zu erinnern. Alles wird jetzt so überlagert von dem täglichen Ärger, den Julietta uns bereitet ...«
Er brach ab und starrte mit leerem Blick vor sich hin. »Doch, sie war ein süßes Kind«, sagte er endlich. »Und so anhänglich …« Er seufzte schwer. »Davon ist jedenfalls nichts mehr übrig, das darf ich dir versichern. Sie war eine schlechte Schülerin, das Abitur haben die Lehrer ihr mehr oder weniger geschenkt. Nicht, dass sie dumm wäre, keinesfalls. Nein, es war einfach so, dass die Schule sie nicht interessiert hat. Nichts interessiert sie. Sie will sich keine Gedanken über ihre Zukunft machen, sie hat kein Benehmen, sie wird sofort aufsässig, wenn wir mit ihr ein ernsthaftes Gespräch führen wollen.«
»Wie alt ist sie jetzt?«
»Sie wird bald zweiundzwanzig«, antwortete Adalbert. »Und glaub mir: Jeden Tag fragen Caroline und ich uns, was wir falsch gemacht haben.«
»Nichts wahrscheinlich«, erwiderte Friedrich. »Wir haben uns das bei Konrad auch schon gelegentlich gefragt, ohne eine Antwort zu finden. Er ist wohl einfach schwieriger vom Charakter her als seine Schwester, und bei euch wird es ähnlich sein.«
»Drei Kinder, die einigermaßen problemlos aufwachsen«, murmelte Adalbert, »und die Jüngste schlägt völlig aus der Reihe. Wir haben damit nicht gerechnet, Fritz. Als die Schwierigkeiten mit Julietta anfingen, dachten wir, das hört schnell wieder auf – so war es bei ihren Geschwistern. Die hatten natürlich auch alle mal Phasen, in denen es nicht ganz so glatt lief. Aber die Phasen sind vorübergegangen. Bei Julietta scheint es jeden Tag schlimmer zu werden.«
»Und wie könnten wir euch helfen?«, fragte der Baron, denn ihm war klar geworden, dass es darum ging bei diesem Gespräch.
»Kann sie hier bei euch vielleicht eine Art Praktikum machen?«, fragte Adalbert mit einer Stimme, die plötzlich zaghaft klang. »Pferde sind das Einzige, wofür sie sich interessiert, wenn sie sich auch bisher geweigert hat, ernsthaft darüber nachzudenken, ob aus diesem Interesse ein Beruf werden könnte. Sie muss aber etwas lernen, Fritz, denn wir werden ihr keine Reichtümer vererben können, und sie wird mehr oder weniger für sich selbst aufkommen müssen. Aber wenn wir versuchen, ihr das zu vermitteln, hört sie einfach nicht zu.«
»Verstehe«, murmelte der Baron. Er mochte Adalbert von Barrentrop, den er seit langem kannte, den Wunsch nicht abschlagen, aber nach allem, was er zuvor gehört hatte, drängte es ihn nicht unbedingt, einen Störenfried auf Schloss Sternberg aufzunehmen. Das Leben hier war auch so schon aufregend genug, sie brauchten wahrhaftig keine unwillige junge Frau, die Sternberg als eine Art Strafkolonie ansah.
Adalbert verstand nur zu gut, was in seinem alten Freund vorging.
»Wenn es überhaupt nicht geht«, sagte er schnell, »dann schickt ihr sie zurück, Fritz. Caroline und ich wollen natürlich auf gar keinen Fall, dass sie hier Unfrieden sät. Wenn wir nicht wirklich am Ende mit unserem Latein wären, hätte ich dich niemals um diesen Gefallen gebeten, das darfst du mir glauben.«
»Gestattest du, dass ich Sofia rufe? Sie muss an dieser Entscheidung ohnehin beteiligt sein«, erklärte der Baron.
»Natürlich, das ist mir klar. Ich wollte nur zuerst mit dir allein sprechen. Für den Fall, dass du mein Ansinnen von vornherein abgelehnt hättest, fand ich es unnötig, auch noch Sofia mit unseren Problemen zu behelligen.«
Friedrich fragte also den langjährigen Butler auf Sternberg, Eberhard Hagedorn, wo sich die Baronin gerade aufhielt, und nachdem er die gewünschte Auskunft erhalten hatte, machten sich die beiden Männer auf den Weg zur hinteren Terrasse, wo Sofia von Kant mit zufriedenem Lächeln ihren Privatgarten überblickte, den sie dem großen Schlosspark abgerungen hatte.
Sie begrüßte Adalbert mit einer herzlichen Umarmung, anschließend erklärte Friedrich ihr das Problem. Wie üblich fällte seine Frau eine schnelle Entscheidung: »Natürlich versuchen wir das, Bert, vorausgesetzt, unser Stallmeister ist einverstanden!«, sagte sie. »Aber wenn es nicht geht, ist Julietta sehr schnell wieder bei euch, das muss dir bitte klar sein. Eine junge Frau, die unser Leben durcheinanderbringt, können wir nicht gebrauchen.«
Adalbert atmete erleichtert aus. »Ich wäre euch bis an mein Lebensende dankbar«, sagte er. »Caroline ebenfalls.«
»Sofia hat Recht«, erklärte Friedrich, »ohne Zustimmung unseres Stallmeisters werden wir ein solches Experiment nicht wagen. Wenn Julietta kommt, wird es vor allem Herr Wenger sein, der mit ihr zu tun hat – eine solche Entscheidung können wir ohne seine Zustimmung nicht treffen.«
»Wäre es möglich, gleich mit ihm zu sprechen?«, fragte Adalbert.
»Natürlich, ich verstehe, dass du so bald wie möglich Klarheit haben willst.«
»Eine Frage noch, bevor ihr geht«, sagte die Baronin. »Wird sich denn Julietta überhaupt hierher schicken lassen, Bert? Wenn sie so aufsässig ist, wird sie sich doch vermutlich einfach weigern, und zwingen kannst du sie ja schlecht.«
Adalberts