Wolfgang Amadeus Mozart. Hermann Abert
Literatur über Mozart von den Anfängen bis 1905 zusammenzustellen. Merkwürdigerweise ist es zu einer wissenschaftlich stichhaltigen, Mozart allein gewidmeten Zeitschrift, wie wir sie in den Bach- und Gluckjahrbüchern haben und zeitweise auch in dem Beethoven-und Wagner-Jahrbuche hatten, sehr lange nicht gekommen. Ihre Stelle vertreten nach wie vor die von Joh. Ev. Engl, dem unermüdlichen Vorkämpfer Mozarts, herausgegebenen und zum größten Teil auch selbst verfaßten Jahresberichte des Salzburger Mozarteums. Daneben sind seit 1895 die Mitteilungen der Berliner Mozartgemeinde getreten, von Rud. Genée begründet und im wesentlichen für ein Laienpublikum bestimmt. Daher stammt der ungleiche Wert ihrer Beiträge, von denen sich namentlich die des ersten Herausgebers mehr durch warme Begeisterung als durch gründliche Sachkenntnis auszeichnen; daneben stehen freilich Beiträge von A. Kopfermann, M. Friedländer und E. Lewicki, dem feinen neueren Kenner Mozarts, denen die Mozartforschung bleibende Förderung verdankt. Seit 1. November 1918 hat endlich der Zentralausschuß der Mozartgemeinde in Salzburg mit der Herausgabe von Mozarteums-Mitteilungen begonnen, die wohl dazu berufen sein können, das fehlende Mozartjahrbuch großen Stils zu ersetzen. Die Leitung besorgte R. von Lewicki in Wien.
Auch biographisch sind entscheidende Fortschritte gemacht worden. Was die Briefe anlangt, so ist es, obwohl das Jahnsche Werk deren große Wichtigkeit jedermann handgreiflich vor Augen führte, seltsamerweise recht lange bei der Veröffentlichung bloßer Blütenlesen geblieben, die mit wenigen Ausnahmen über den Stand der lange über Gebühr geschätzten Nohlschen Sammlung nicht wesentlich hinauskamen. Die Jahre 1906–1911 brachten deren nicht weniger als fünf: von K. Storck (Stuttgart 1906), M. Weigel (Berlin 1910), A. Leitzmann (Leipzig 1910), C. Sachs (Berlin 1911) und H. Leichtentritt (Deursche Bibliothek 1912). Die langersehnte kritische Gesamtausgabe hat erst L. Schiedermair in seinen Briefen W.A. Mozarts und seiner Familie, München und Leipzig, G. Müller 1914, in fünf starken Bänden vorgelegt, von denen der fünfte eine Ikonographie enthält. Die beiden ersten bringen Wolfgangs Briefe, in den beiden folgenden fällt der Löwenanteil denen des Vaters zu; die Mutter ist mit 40, die Schwester mit 16, Konstanze Mozart mit 4 und Maria Anna Thekla Mozart, das "Bäsle", mit 2 Briefen vertreten. Die Sammlung ist mit musterhafter Sorgfalt angelegt, nur ganz wenige, unwesentliche Partien in den Briefen Leopolds sind weggelassen. Orthographie und sprachlicher Ausdruck der Originale sind peinlich gewahrt, ein kurzer, fast allzu kurzer Kommentar gibt über die in den Briefen vorkommenden Persönlichkeiten, sonstigen äußeren Verhältnisse und Werke Mozarts Auskunft. So liegt hier ein Quellenwerk ersten Ranges vor, das der Mozartbiographie endlich die lang vermißte sichere Grundlage gibt. Namentlich die Persönlichkeiten der beiden Hauptpersonen, des Vaters und des Sohnes, treten hier erstmals ans helle Licht des Tages, und das macht die Lektüre dieser Bände auch für den Laien zu einem besonderen Genuß. Sie verdienen überhaupt in der Geschichte der Briefliteratur einen Ehrenplatz: der schroffe Gegensatz, den sie zu der empfindsamen und schöngeistigen Briefstellerei jener Tage bilden, lehrt deutlich, daß dieses als sentimental verschrieene Jahrhundert doch auch seine starken, ja derben Seiten hatte. Der Herausgeber hat es vorgezogen, die einzelnen Glieder der Familie in den Briefen getrennt vorzuführen. Mir will aber doch scheinen, als wäre die dialogische Anordnung besser gewesen. Wir beklagen es mit Recht an manchen Briefsammlungen, daß nur der eine Schreiber zu Worte kommt. Denn der Brief ist niemals ein selbständiges Dokument, sondern setzt ein Gegenüber voraus, dem der Schreiber eine bestimmte Einwirkung auf sich selber zugesteht, indem er sich mit ihm in Beziehung setzt. Bei den Mozarts sind wir nun so glücklich, in den meisten Fällen, und besonders was das Wichtigste, das Verhältnis von Vater und Sohn, betrifft, Wirkung und Gegenwirkung genau verfolgen zu können. Wie fein heben sich die Briefe beider voneinander ab, die impressionistischen Wolfgangs und die pädagogischen Leopolds, und wie klar treten die zu Zeiten hochdramatischen Spannungen zwischen beiden heraus! Eine dialogische Folge hätte streckenweise geradezu eine Biographie in Briefen ergeben, die sich der Leser bei dem gewählten Verfahren nicht ohne Mühe aus zwei Bänden erst selbst zusammenstellen muß. Sehr dankenswert, wenn auch etwas buntscheckig ausgefallen ist die Bilderschau (wie ich die "Ikonographie" des doch nicht bloß für klassische Philologen bestimmten fünften Bandes umtaufen möchte); merkwürdigerweise fehlt darin eine recht wichtige Person: Süßmayer. Sollte sich von ihm in Wien gar kein Bild mehr erhalten haben?
Auch A. Leitzmanns Schrift über Mozarts Persönlichkeit, Leipzig 1914, ist der Biograph Mozarts zu Dank verpflichtet. Sie stellt die Urteile der Zeitgenossen über Wesen und äußeres Auftreten des Meisters annähernd vollständig zusammen. Die Zeugnisse sind lange nicht alle gleichwertig, geben aber in ihrer Gesamtheit doch anschaulich den Eindruck wieder, den Mozarts Wesen auf die Umwelt machte. Nicht wenige sind allerdings für die Persönlichkeit derer, von denen sie herkommen, weit bezeichnender als für die des Meisters, dem sie gelten.
Was die Chronologie von Mozarts Werken anbelangt, so erschien zunächst 1905 zu Leipzig eine von Paul Graf von Waldersee besorgte, wesentlich erweiterte und verbesserte zweite Auflage des alten Köchelschen Verzeichnisses, dieses neben Jahn wohl wichtigsten älteren Mozartwerkes. Sie benützt die Zusätze Köchels in seinem Handexemplar und berücksichtigt außerdem die gesamten Forschungsergebnisse von 1877 ab, dem Sterbejahr Köchels. Anlage und Ziele des Werkes sind dieselben geblieben, und auch die Chronologie der Mozartschen Werke hat keine wesentlichen Änderungen erfahren. Daß hier freilich noch recht viel zu tun übrigblieb, namentlich was die Werke bis etwa 1780 anbelangt, hat erst die spätere Forschung erwiesen, denn Köchel und Waldersee folgen bei der Datierung der Werke nach stilkritischen Grundsätzen durchaus den vielfach überholten Ergebnissen Otto Jahns. Unvergessen soll dieser 2. Auflage dagegen die von C.V. Reusch verfaßte Biographie Köchels bleiben, die im Vorwort abgedruckt ist.
Von den ästhetischen und historischen Arbeiten über Mozart können hier natürlich nur die grundlegenden erwähnt werden, alle Spezialarbeiten müssen der Einzeldarstellung vorbehalten bleiben. Es handelt sich dabei teilweise um Forschungen, die sich nicht einmal speziell mit Mozart beschäftigen, sondern mit seinen Vorgängern und Zeitgenossen, aber gerade dadurch eine völlig neue Grundlage für die Erkenntnis seines Stils geschaffen haben. Zunächst kamen sie dem Instrumentalkomponisten Mozart zugute. 1902 legte H. Riemann den ersten Band seiner Mannheimer Sinfoniker in den bayrischen Denkmälern vor, bald darauf ließen die österreichischen eine Reihe von Wiener Vorklassikern folgen. Damit fiel auf die Wurzeln des klassischen und damit auch des Mozartschen Instrumentalstiles ein ganz neues Licht, von dem bei Jahn kaum ein schwacher Schimmer aufdämmerte. Alle drei klassischen Meister traten in einen völlig neuen, geschichtlichen Zusammenhang, als dessen wichtigste Glieder die drei Sinfonikerschulen in Mannheim, Wien und Norddeutschland erschienen. Speziell für Mozart stellte sich dabei während seiner Entwicklungsjahre eine enge Abhängigkeit von den Mannheimern heraus, namentlich seit uns durch H. Riemanns Verdienst die Kunst Joh. Schoberts wieder nähergerückt wurde. Immer klarer treten Chr. Bach und Schobert als die beiden Meister hervor, die auf Mozarts Entwicklung den größten Einfluß geübt haben, einen Einfluß, der Jahn so gut wie unbekannt geblieben war. Im Anschluß an diese Forschungen sind in neuester Zeit, besonders in Wien unter Führung Guido Adlers, stilkritische Untersuchungen über die klassische Wiener Kunst angestellt worden, so namentlich von W. Fischer im dritten Heft von Adlers Studien zur Musikwissenschaft. Sie haben sich auch für Mozart insofern als besonders fruchtbar erwiesen, als O. Jahn sich mit Mozarts Stil nur ganz allgemein und nicht systematisch beschäftigt hatte. Über Mozarts allererste Entwicklung hat ein Aufsatz des Verfassers dieses Buches über L. Mozarts Notenbuch von 1762 (Gluckjahrbuch III 51 ff.) manche neuen Aufschlüsse gebracht, zumal was sein Verhältnis zu der älteren norddeutschen Schule von Sperontes ab betrifft.
Länger hat es gedauert, bis man auch hinsichtlich der Opern Mozarts im Anschluß an Chrysanders Ausführungen über den Standpunkt Jahns hinauskam. Der erste entscheidende Vorstoß ging von H. Kretzschmar aus in einem Aufsatz über Mozart in der Geschichte der Oper (Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 1905, abgedruckt in den Gesammelten Aufsätzen II, 257 ff.). In musterhafter Klarheit und Kürze werden hier die Wege gewiesen, die die Forschung bezüglich der Opern Mozarts zu gehen hat. Der große geschichtliche Hintergrund, der bei Jahn teils überhaupt fehlte, teils in ganz verzeichneter