Wolfgang Amadeus Mozart. Hermann Abert
Schaffen in ein neues Licht. Welche Bedeutung übrigens der Kunst seiner Vorgänger und Zeitgenossen nicht nur für Mozart, sondern auch als selbständigen Kunstwerken zukommt, ließ sich schon aus einer Reihe von Neudrucken von Werken Holzbauers, Grauns, Jommellis, Traëttas, Gaßmanns und Umlaufs in den verschiedenen Denkmälerpublikationen entnehmen, auch hat die in letzter Zeit wieder bedeutend regere Gluckforschung für Mozart manches Neue abgeworfen.
Den größten Fortschritt über Jahn hinaus stellt das große Werk der beiden französischen Gelehrten T. de Wyzewa und G. de Saint-Foix dar: W.A. Mozart, Sa vie musicale et son oeuvre, de l'enfance à la pleine maturité (1756–1777), Paris 1912. Obwohl es nur die ersten 21 Jahre des Meisters behandelt und sich für die übrigen mit einem summarischen Überblick begnügt, hat es doch die Mozartforschung auf ganz neue Grundlagen gestellt. Schon die Methode ist zwar nicht völlig neu, aber doch nie zuvor in der Musikgeschichte in so großem Maßstabe und mit solcher Konsequenz angewandt worden. Sie ist durchaus moderner, kunstpsychologischer Natur und die schärfste Absage an die besonders von der Romantik aufgestellte Theorie von dem engen Zusammenhang zwischen der Kunst eines Meisters und seinem äußeren Leben. Das Leben kommt für die beiden Verfasser nur so weit in Frage, als es Mozart neue künstlerische Eindrücke vermittelt hat. Hier allein liegt für sie die Quelle von Mozarts Kunst, nicht in den verschiedenen Konflikten und Krisen seines äußeren Lebens. Diese Betrachtungsweise ist von der ganz richtigen, neuen Einsicht eingegeben, daß Mozart von allen großen Musikern der für künstlerische Eindrücke empfänglichste, anpassungsfähigste und -bedürftigste war und sich diese Gabe frischer Empfindung bis an sein Ende bewahrt hat. Die Verfasser gehen denn auch mit bewundernswerter Folgerichtigkeit zu Werke und teilen das Schaffen Mozarts bis 1777 in nicht weniger als 24 Perioden ein, von denen jede einzelne vorwiegend unter dem Zeichen eines oder mehrerer künstlerischer Vorbilder steht; für die spätere Zeit lassen sie es bei 10 Perioden bewenden. Die Ergebnisse sind für die formale Seite der Mozartschen Kunst geradezu verblüffend, besonders was die Instrumentalwerke betrifft. Es ist den Verfassern vor allem gelungen, eine ganz neue Chronologie der Werke Mozarts aufzustellen, die die Jahnsche und Köchelsche in zahlreichen Punkten über den Haufen wirft, und man staunt über den Scharfsinn, mit dem bisher für undatierbar gehaltene Werke manchmal bis auf den Monat hinaus bestimmt werden; dabei ist die Mehrzahl dieser Datierungen überzeugend oder doch in hohem Grade wahrscheinlich. Was mit jener Methode überhaupt zu erreichen war, ist hier tatsächlich erreicht, und im Hinblick auf die Fülle neuer Ergebnisse ist bei diesen beiden Bänden das oft mißhandelte Beiwort "epochemachend" wirklich berechtigt. Nur in der Oper hätte auch mit jener Methode mehr erzielt werden können. Hier reicht die Quellenkenntnis der Verfasser seltsamerweise lange nicht so weit wie in der Instrumentalmusik; die einzelnen Strömungen zu Mozarts Zeit sind nicht klar geschieden, geschweige denn die einzelnen Meister in ihrer Eigentümlichkeit richtig erfaßt, so daß auf diesem Gebiete trotz der feinen Bemerkungen über die Entwicklung der einzelnen Formen noch viel zu tun übrig bleibt. Ein wichtiges neues Ergebnis ist aber auch hier zu verzeichnen: der Anteil der Pariser opéra comique an Mozarts Kunst stellt sich als weit größer heraus als man bisher annahm.
Und doch fordert trotz diesen glänzenden Vorzügen das französische Werk durch seine Anlage und seine Ziele zur Kritik heraus, vor allem was das Verhältnis von Leben und Kunst bei Mozart anlangt. Früher sah man die äußeren Schicksale eines Künstlers als die zeugenden Kräfte für sein Schaffen an: der Künstler erlebt nach dieser Lehre zuerst etwas, dann setzt er kraft der ihm verliehenen Gaben dieses Erlebnis in Töne um. Das ist die bekannte Nachahmungstheorie in allen ihren verschiedenen Schattierungen. Wyzewa und Saint-Foix fallen ins andere Extrem, indem für sie zwischen äußerem Leben und künstlerischem Schaffen gar kein Zusammenhang besteht. Mir will aber scheinen, als gingen beide Anschauungen von einer irrigen Voraussetzung aus, nämlich der, daß das Leben eines Genies wie Mozart in derselben Sphäre von Betätigungen und Zufälligkeiten verlaufe wie das des Nichtkünstlers und des bloßen Talentes. Man vergleiche nur einmal Wolfgangs Lebensschicksal mit dem seines Vaters. Leopold war zeitlebens gewaltig stolz darauf, sich das seinige selbst geschmiedet zu haben, und doch besteht es, bei Lichte betrachtet, nur aus einer Kette von Zufällen, die er mit einem größeren oder geringeren Maß von Klugheit teils einfach hinnahm, teils zu seinem Vorteil benutzte. Die Kunst aber war ihm eine willkürliche Beschäftigung, die er ausübte, wenn Berufspflicht oder Neigung ihn trieb, die er jedoch, wenn es ihm richtig schien, auch liegen ließ. Sie war für ihn keine ursprüngliche Lebenskraft, sondern empfing ihre Gesetze von Religion, Moral, höfischer oder bürgerlicher Konvention u. dgl. Für Wolfgang dagegen, das Genie, war das künstlerische Schaffen die allerprimärste Lebensäußerung. Er konnte nicht bloß, wenn er wollte, für ihn gab es überhaupt kein Nacheinander von Wollen und Können, sondern nur ein Müssen. Darum sind seine Werke auch nicht bloß Niederschläge oder Erläuterungen seines Lebens, sondern der Inhalt dieses Lebens selbst. Aber auch seine "äußeren" Schicksale sind deshalb weder "wesentlich" noch "unwesentlich" für seine Kunst, sondern von Anfang an unlöslich mit ihr verbunden, von denselben Trieben und Kräften bestimmt. Alles, was in Leopolds Leben bloßer Zufall gewesen war, verwandelt sich bei seinem Sohne in Schicksal. Daraus erklärt sich so vieles, was dem selbstbewußten Banausen an Mozarts Tun und Lassen "naiv", "weltfremd" oder gar "unbegreiflich" erscheint. Derselbe Dämon, der ihm seine Werke eingab, hat ihn auch seine Lebensstraße bis ans dunkle Ende geführt.
Aber auch noch einem andern Problem sind die beiden Franzosen die Lösung schuldig geblieben. Sie setzen Mozarts Kunst mosaikartig aus einer Reihe von Einflüssen zusammen, denen er der Reihe nach während seines Lebens, also durch äußeren Zufall, unterlegen sei. Dieser rationalistische Drang, Klarheit und Ordnung in das vielgestaltige Bild hineinzubringen, ist echt französisch. Aber abgesehen davon, daß es ein verhängnisvoller Irrtum ist, das Wesen des Genies durch die Addition von Einflüssen errechnen zu wollen, erhalten wir keine Antwort auf die beiden Hauptfragen: nach welchen Gesichtspunkten traf Mozart die Auswahl unter seinen zahlreichen Vorbildern, und welche Züge hat er sich von jedem einzelnen zu eigen gemacht? Warum haben z.B. Chr. Bach und Schobert tiefere Spuren bei ihm hinterlassen als der doch ungleich bedeutendere Gluck? Schon der gewöhnliche Mensch pflegt ja nichts nachzuahmen, wozu der Keim nicht schon in ihm selbst liegt. Beim Genie aber trägt bereits diese Auswahl das Gepräge des Schöpferischen, sie ist sein erster Versuch, sich der Tradition gegenüber zu behaupten, das ihm Fremde und Hemmende abzustoßen und das Wesensverwandte nicht etwa bloß nach-, sondern zugleich umzubilden und in seinen eigenen Besitz zu verwandeln. Gerade dieser ausschlaggebende Punkt kommt aber bei der Mosaikarbeit der Franzosen nicht zu seinem Recht. Der Anempfinder Mozart drängt den schöpferischen Gestalter viel zu sehr zurück, und damit geht uns über den mit äußerster Peinlichkeit dargestellten Teilen der Blick für das Ganze verloren. Wir sollten aber nie vergessen, daß das Größte an Mozart sein eigenes Ich und dessen Gestaltungskraft ist, nicht das Material, an dem sie sich erprobt hat, und es ist die Hauptpflicht des Biographen, dies sein Eigenstes zu verfolgen, das in den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung zwar in verschiedener Form zum Ausdruck gelangt, aber im Grunde genommen doch stets dasselbe bleibt. Mozarts Kunst gleicht einem fein geschliffenen Kristall, der bei wechselndem Lichte immer neue Farben aufleuchten läßt, aber seinen Grundstoff doch niemals ändert.
Bei der Bedeutung des französischen Werkes für die Mozartforschung war es mit Freuden zu begrüßen, daß es sehr bald nach seinem Erscheinen auch in Deutschland eingebürgert wurde. Das geschah, in Form einer paraphrasierenden Verkürzung, im ersten Bande des zweibändigen Werkes von Arthur Schurig, W.A. Mozart, sein Leben und sein Werk, Leipzig 1913. Schurig bekennt sich selbst als "Vasallen" der beiden Franzosen und hält sich, was die geschichtliche und ästhetische Seite anlangt, streng an ihre Ergebnisse. Seine Hochachtung vor ihnen ist ebenso groß, wie seine Wertschätzung Otto Jahns gering ist. Das Werk ist die bisher schärfste Absage an Jahns romantisches Mozartideal und damit geistesgeschichtlich nicht ohne Bedeutung. Schurig fühlt sich dazu berufen, mit dem alten Wust einmal ordentlich aufzuräumen und geht in seiner temperamentvollen Art schließlich so weit, den Begründer der modernen wissenschaftlichen Musikerbiographie als einen intellektuell und moralisch rückständigen Kopf hinzustellen. So notwendig nun ein frischer Luftzug gerade der Mozartforschung war, so sehr schaden derartige ins Extrem getriebene Behauptungen zwar nicht dem Manne, auf den sie gemünzt sind, aber der Sache des wissenschaftlichen