Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
das Verfahren, dessen man sich bediente, um diese Buchstaben so tief in die Haut eines wilden Esels einzugravieren, unbekannt ist.«
Er kehrte sich lebhaft den mit Kuriositäten beladenen Tischen zu, und seine Augen schienen dort etwas zu suchen.
»Was wünschen Sie?« fragte der Alte.
»Ein Instrument, um das Chagrin anzuschneiden, damit ich sehen kann, ob die Buchstaben eingeprägt oder eingelegt sind.«
Der Alte reichte dem Unbekannten sein Stilett; der nahm es und begann das Leder an der Stelle, wo die Worte geschrieben standen, einzuschneiden; als er aber eine dünne Schicht Leder abgehoben hatte, traten die Buchstaben darunter wieder so deutlich und denen, die auf die Oberfläche eingekerbt waren, so völlig gleich, hervor, daß er einen Augenblick lang wähnte, nichts weggenommen zu haben.
»Die Kunst des Morgenlandes kennt Geheimnisse, um die tatsächlich nur sie allein weiß«, sagte er und betrachtete den orientalischen Spruch mit einer gewissen Unruhe.
»Ja«, erwiderte der Greis, »man tut besser daran, sich an die Menschen zu halten als an Gott.«
Die mysteriösen Worte waren folgendermaßen angeordnet:
Was in der Übersetzung heißt:
Wenn du mich besitzest, wirst du alles besitzen.
Aber dein Leben wird mir gehören.
Gott hat es so gewollt.
Wünsche, und deine Wünsche werden erfüllt werden.
Aber richte deine Wünsche nach deinem Leben.
Es ist in mir.
Bei jedem Wunsch werde ich abnehmen wie deine Tage.
Willst du mich? Nimm.
Gott wird dich erhören.
Sei es!
»Ah! wie fließend Sie das Sanskrit lesen!« sagte der Alte. »Haben Sie vielleicht Persien oder Bengalen bereist?«
»Nein, Monsieur«, erwiderte der junge Mann und betastete neugierig das symbolträchtige Leder, das sich wegen seiner geringen Geschmeidigkeit wie ein Metallblatt anfühlte.
Der alte Händler setzte die Lampe wieder auf die Säule, von der er sie genommen hatte, und warf dem jungen Mann einen Blick kalter Ironie zu, der zu sagen schien: ›Er denkt schon nicht mehr ans Sterben.‹
»Ist es ein Scherz? Ist es ein Geheimnis?« fragte der junge Unbekannte.
Der Alte schüttelte den Kopf und sagte ernst: »Ich kann Ihnen darauf nicht antworten. Ich habe die schreckliche Macht, die dieser Talisman verleiht, Männern angeboten, die mehr Energie hatten, als Sie zu besitzen scheinen; aber wenngleich sich auch alle über den zweifelhaften Einfluß, den er auf ihr künftiges Geschick ausüben sollte, lustig machten, hat doch noch keiner gewagt, diesen von einer unbekannten Macht so verhängnisvoll vorgeschlagenen Pakt einzugehen. Ich denke wie sie, ich habe gezweifelt, habe mich enthalten, und …«
»Und Sie haben es nicht einmal probiert?« unterbrach ihn der junge Mann.
»Probieren!« rief der Alte. »Wenn Sie auf der Vendôme-Säule ständen, würden Sie dann wohl probieren, in die Luft zu springen? Kann man den Lauf des Lebens aufhalten? Hat der Mensch je vermocht, stückchenweise zu sterben? Bevor Sie in dieses Kabinett traten, waren Sie entschlossen, sich das Leben zu nehmen; aber plötzlich beschäftigt Sie ein Geheimnis und bringt Sie vom Sterben ab. Kind! Wird Ihnen nicht jeder Ihrer Tage ein noch spannenderes Rätsel aufgeben, als es dieses ist? Hören Sie mich an. Ich habe noch den lasterhaften Hof des Regenten gesehen. Wie Sie steckte ich damals im Elend, ich habe mein Brot erbettelt. Trotzdem bin ich einhundertzwei Jahre alt und Millionär geworden: das Unglück machte mich reich, die Unwissenheit machte mich klug. Ich will Ihnen in wenigen Worten ein großes Geheimnis des menschlichen Lebens offenbaren: Der Mensch erschöpft sich durch zwei Akte, die er instinktiv vollzieht und die seine Lebensquellen zum Versiegen bringen. Zwei Verben drücken alle Formen aus, die diese beiden Todesursachen annehmen: Wollen und Können. Zwischen diesen beiden Grenzbegriffen menschlichen Handelns liegt ein anderer, dessen sich die Weisen bemächtigen, und ihm verdanke ich das Glück und mein langes Leben. Das Wollen verzehrt uns, und das Können zerstört uns; aber das Wissen läßt unsern schwachen Organismus in einem immerwährenden Zustand der Ruhe. So ist das Verlangen oder das Wollen in mir tot, vom Denken vernichtet. Die Bewegung oder das Können ist durch das natürliche Spiel meiner Organe aufgehoben. Kurz, ich habe mein Leben nicht in das Herz, das bricht, nicht in die Sinne, die abstumpfen, sondern in das Gehirn verlegt, das sich nicht abnutzt und alles überlebt. Kein Übermaß hat meiner Seele oder meinem Leib je geschadet. Dennoch habe ich die ganze Welt gesehen. Ich habe meine Füße auf die höchsten Berge Asiens und Amerikas gesetzt, habe alle Sprachen der Welt gelernt und unter allen Herrschaftsformen gelebt. Ich habe einem Chinesen mein Geld geborgt, der mir den Leichnam seines Vaters verpfändete, ich habe im Zelt des Arabers geschlafen, nur seinem Wort vertrauend; ich habe in allen Hauptstädten Europas Verträge unterzeichnet und habe mein Gold bedenkenlos im Wigwam der Wilden gelassen; kurz, ich habe alles erreicht, weil ich alles zu verachten verstand. Mein einziger Ehrgeiz war: zu sehen. Sehen, heißt das nicht wissen? Oh, junger Mann, heißt wissen nicht intuitiv genießen? Heißt dies nicht das Wesen der Dinge entdecken und sich dessen zu bemächtigen? Was bleibt uns vom materiellen Besitz? Eine Vorstellung. Urteilen Sie nun selbst, wie schön das Leben eines Mannes sein muß, der alle Wirklichkeit in sein Denken aufzunehmen vermag, den Ursprung des Glücks in seine Seele verlegt und so tausend vollkommene Freuden genießt, die von irdischem Makel befreit sind. Das Denken ist der Schlüssel zu allen Schätzen, es verschafft die Freuden des Geizigen, ohne dessen Sorgen. So habe ich mich über die Welt erhoben, und meine Genüsse sind geistiger Art gewesen. Meine Ausschweifungen waren die Betrachtung der Meere, der Völker, der Wälder, der Gebirge. Ich habe alles gesehen, aber in Ruhe, ohne Anstrengung; ich habe nie etwas herbeigewünscht, ich habe alles abgewartet. Ich habe das Universum durchwandelt wie den Garten eines Hauses, das mir gehörte. Was die Menschen Kummer, Liebe, Ehrgeiz, Mißgeschick, Traurigkeit nennen, das sind für mich Begriffe, die ich in Träumereien verwandle. Statt sie zu empfinden, verarbeite ich sie und verdeutliche sie; anstatt von ihnen mein Leben verzehren zu lassen, dramatisiere und entwickle ich sie und ergötze mich daran wie an Romanen, die ich mit meinem inneren Auge lese. Da ich meine Organe niemals überanstrengt habe, erfreue