Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
der sich meiner Notlage schämte und mir gegenüber zu sehr im Unrecht war, um mich nicht zu hassen. Er empfing mich mit jener kalten Höflichkeit, welche jedes Wort und jede Gebärde wie einen Schimpf erscheinen läßt; sein unsicherer Blick erregte mein Bedauern. Ich schämte mich für ihn seiner Kleinlichkeit in all dem Glanz, seiner Armseligkeit in all dem Überfluß. Er sprach mir von ansehnlichen Verlusten, die ihm die dreiprozentige Staatsrente verursachte; dann nannte ich ihm den Grund meines Besuchs. Die Veränderung in seinem Benehmen, das von Frostigkeit allmählich zu großer Liebenswürdigkeit überging, widerte mich an. Kurz und gut, mein Freund, er besuchte die Comtesse und stellte mich dort einfach kalt. Fœdora entfaltete für ihn einen ungeahnten Zauber; sie umstrickte ihn völlig, verhandelte mit ihm die mysteriöse Angelegenheit, ohne daß ich ein Wort davon erfuhr; ich war ihr nur Mittel zum Zweck gewesen! … Sie schien mich nicht mehr zu bemerken, wenn mein Cousin bei ihr war; sie empfing mich dann vielleicht mit geringerer Freude als an dem Tag, da ich ihr vorgestellt worden war. Eines Abends demütigte sie mich vor dem Duc de Navarreins durch eine jener Gesten, einen jener Blicke, die man nicht in Worte fassen kann. Ich ging mit Tränen in den Augen fort; schmiedete tausend Rachepläne und erwog, ihr Gewalt anzutun.
Oft begleitete ich sie in die Bouffons: dort, neben ihr, ganz meiner Liebe hingegeben, sah ich sie an und gab mich zugleich dem Zauber der Musik hin, ging auf in dem doppelten Genuß, zu lieben und die Regungen meines Herzens in den Melodien des Musikers wiederzufinden. Meine Leidenschaft war in der Luft, auf der Bühne, sie siegte überall, nur nicht bei meiner Geliebten. Ich ergriff dann wohl Fœdoras Hand, musterte forschend ihre Züge, ihre Augen, ersehnte ein Verschmelzen unserer Gefühle, eine jener unwillkürlichen Harmonien, die, von den Klängen erweckt, die Seelen vereint schwingen läßt; aber ihre Hand war stumm, und ihre Augen sagten nichts. Wenn das Feuer meines Herzens, das aus meinen Zügen strömte, ihr zu heiß ins Antlitz schlug, warf sie mir ein gesuchtes Lächeln zu, jenes unverbindliche Lächeln, das in den Salons auf den Lippen aller Porträts starrt. Sie lauschte der Musik nicht. Die göttlichen Weisen Rossinis, Cimarosas,36 Zingarellis37 riefen kein Gefühl in ihr hervor, klangen nicht als Ausdruck eigenen Empfindens in ihr wider; ihre Seele war öde und leer. Fœdora stellte sich wie ein Schauspiel im Schauspiel dar. Ihre Lorgnette wanderte unaufhörlich von Loge zu Loge; voll innerer Unruhe, obgleich scheinbar ruhig, war sie ein Opfer der Mode: ihre Loge, ihr Hut, ihr Wagen, ihre Person waren ihr alles. Man begegnet zuweilen Menschen von riesenhaftem Körperbau, die in einer ehernen Brust ein weiches liebevolles Herz bergen; aber sie barg ein ehernes Herz unter ihrer zarten, anmutigen Hülle. Meine verhängnisvolle Menschenkenntnis riß viele Schleier von meinen Augen. Wenn der gute Ton darin besteht, sich selbst um des anderen willen zu vergessen, in Stimme und Gebärde eine ständige Sanftmut walten zu lassen, den anderen zu gefallen, indem man ihr Selbstbewußtsein befriedigt, so war es Fœdora trotz ihrer Klugheit nicht gelungen, jede Spur ihrer plebejischen Herkunft auszulöschen: ihre Selbstvergessenheit war Falschheit; ihre Manieren waren nicht angeboren, sondern mühselig erworben; kurz, ihre Höflichkeit roch nach Liebedienerei. Für ihre Günstlinge waren ihre honigsüßen Reden freilich der Ausdruck von Güte, ihre affektierte Überspanntheit edler Enthusiasmus. Ich allein hatte ihre Grimassen studiert, ich hatte die dünne Rinde, die der Welt genügte, von ihrem Inneren abgezogen und ließ mich von ihrem heuchlerischen Schöntun nicht mehr täuschen: ich hatte ihre Katzenseele durchschaut. Wenn irgendein alberner Tropf ihr Komplimente machte, sie pries, schämte ich mich für sie. Und ich liebte sie trotz allem! Ich hoffte, das Eis ihres Herzens mit dem Hauch der Dichterliebe zu schmelzen. Wenn ich ihr Herz einmal nur weiblicher Zärtlichkeit öffnen, sie der himmlischen Kraft der Hingebung hätte empfänglich stimmen können, dann wäre sie vollkommen, wäre mir wie ein Engel erschienen. Ich liebte sie als Mann, als Liebhaber, als Künstler, während man, um sie zu erlangen, sie gar nicht hätte lieben müssen; ein seelenloser Geck, ein kaltsinniger Rechner hätte sie vielleicht bezwungen. Eitel und intrigant, wie sie war, hätte sie zweifellos auf die Sprache der Eitelkeit gehört und sich in den Fallstricken einer Intrige fangen lassen; ein trockener, frostiger Geselle hätte sie zu beherrschen vermocht. Brennender Schmerz durchbohrte mein Herz, wenn sie mir so unbefangen ihren Egoismus enthüllte. Tiefbewegt erkannte ich, daß sie eines Tages allein im Leben dastehen würde, ohne zu wissen, wem sie die Hand reichen sollte, ohne freundlichen Blicken zu begegnen, in denen die ihren ruhen könnten. Eines Abends fand ich den Mut, ihr in lebhaften Farben ihr verödetes, einsames und leeres Alter auszumalen. Angesichts solcher schrecklichen Rache der hintergangenen Natur sagte sie etwas Abscheuliches: ›Ich werde immer Geld haben. Mit Geld aber können wir immer die Gefühle um uns schaffen, die zu unserem Wohlbehagen nötig sind.‹ Ich ging fort, niedergeschmettert von der Logik dieses Luxus, dieser Frau, dieser Welt, überhäufte mich mit Vorwürfen, daß ich sie so hirnverbrannt vergötterte. Ich liebte ja die arme Pauline auch nicht; hatte die reiche Fœdora nicht das Recht, den armen Raphael zurückzuweisen? Unser Gewissen ist ein unfehlbarer Richter, wenn wir es noch nicht gemordet haben. – ›Fœdora‹, rief mir eine sophistische Stimme zu, ›liebt niemanden und weist niemanden zurück; sie ist frei, aber ehedem hat sie sich für Gold verkauft. Der russische Graf, mag er Gatte oder Liebhaber gewesen sein, hat sie besessen. Warte es ab!‹
Ohne Tugend und ohne Laster lebte diese Frau fern von der Menschheit, in einer Sphäre für sich, einer Hölle oder einem Paradies. Dieses weibliche Rätsel in Kaschmir und Stickereien setzte alle menschlichen Triebkräfte in mir in Bewegung: Stolz, Ehrgeiz, Liebe, Neugierde. Eine Modelaune oder die Manie, originell zu erscheinen, von der wir alle besessen sind, hatte uns dazu getrieben, ein kleines Boulevardtheater zu bevorzugen. Die Comtesse äußerte den Wunsch, die bepuderte Physiognomie eines Mimen zu sehen, den einige Leute von Geist himmlisch fanden, und mir ward die Ehre zuteil, sie zur Premiere irgendeiner miesen Posse zu begleiten. Die Loge kostete kaum 100 Sous, doch besaß ich nicht einen lumpigen Heller. Da ich noch einen halben Band Memoiren zu schreiben hatte, wagte ich nicht, Finot um Geld anzugehen, und Rastignac, mein helfender Engel, war verreist. Diese beständige Verlegenheit machte mein ganzes Leben zum Fluch. Einmal, als wir aus der Oper kamen und es schrecklich regnete, hatte Fœdora einen Wagen für mich vorfahren lassen, ohne daß ich mich diesem eitlen Liebesdienst hätte entziehen können: sie ließ keine meiner Entschuldigungen gelten, weder meine Vorliebe für den Regen noch den Einwand, daß ich spielen gehen wolle. Sie ahnte nichts von meiner