Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
er, ›begrabe dich, wenn du kannst!‹ Am Tag darauf kaufte ich bei Lesage Möbel, mietete die Wohnung in der Rue Taitbout, in der du mich kennengelernt hast, und beauftragte den besten Tapezierer mit der Ausstattung. Ich schaffte mir Pferde an. Ich stürzte mich in einen Wirbel von eitlen und von wirklichen Genüssen. Ich spielte, gewann und verlor abwechselnd ungeheure Summen, aber auf Festen, bei Freunden, nie in Spielhäusern, vor denen ich meine frühere heilige Scheu beibehielt. Allmählich fand ich Freunde. Ich verdankte ihre Anhänglichkeit kleinen Streitigkeiten oder der vertrauensseligen Leichtfertigkeit, mit der wir uns unsere Geheimnisse anvertrauen und uns gemeinsam erniedrigen; aber vielleicht sind nur die Laster unser Bindeglied? Ich wagte mich an einige literarische Arbeiten, die mir Komplimente eintrugen. Da die Leuchten der Literatenwelt in mir keinen gefährlichen Konkurrenten sahen, lobten sie mich, ohne Zweifel weniger wegen meines persönlichen Verdienstes, als um das ihrer Kollegen zu schmälern. Ich wurde ein Lebemann, um mich dieses malerischen Ausdrucks zu bedienen, den eure Orgiensprache erfunden hat. Es war mir eine Ehrensache, mich schnell umzubringen, mit meinem Schwung und meiner Ausdauer die heitersten Kumpane auszustechen. Ich war immer frisch, immer elegant. Ich galt für geistvoll. Man sah mir das furchtbare Dasein nicht an, das aus dem Menschen einen Trichter, einen Verdauungsapparat, ein Luxuspferd macht. Bald erschien mir die Ausschweifung in der ganzen Majestät ihres Grauens, und ich verstand sie! Keine Frage: die vernünftigen Leute aus geordneten Verhältnissen, die Weinflaschen für ihre Erben etikettieren, können weder die Theorie dieses unermeßlichen Lebens noch dessen Normalzustand auch nur annähernd begreifen; wie soll man Provinzlern, für die Opium und Tee, in denen eine solche Fülle von Wonnen schlummern, noch immer nur Arzneien sind, die Poesie dieses Lebens beibringen? Findet man nicht selbst in Paris, dieser Hauptstadt des Geistes, kleinmütige Sybariten?45 Unfähig, das Übermaß des Genusses zu vertragen, schleppen sie sich ermattet von einer Orgie weg, wie die biederen Bürger, die eine neue Oper von Rossini gehört haben und nachher die Musik verdammen? Entsagen sie nicht diesem Leben, wie ein maßvoller Mensch keine Pasteten von Ruffec mehr essen will, weil ihm die erste den Magen verdorben hat? Die Ausschweifung ist sicherlich eine Kunst wie die Poesie und braucht starke Seelen. Um ihre Geheimnisse zu fassen, ihre Köstlichkeiten zu schlürfen, muß man sich einigermaßen gründlichen Studien hingeben. Wie alle Wissenschaften ist sie im Anfang abschreckend und dornenvoll.
Ungeheure Hindernisse umgeben die großen Freuden des Menschen, nicht seine Vergnügungen im einzelnen, sondern die Systeme, welche die seltensten Empfindungen zur Gewohnheit erheben, ihnen Intensität verleihen, sie für ihn fruchtbar machen, indem sie in sein Leben ein dramatisches Element bringen und ihn zu einem unmäßigen, schnellen, verschwenderischen Verbrauch seiner Kräfte nötigen. Der Krieg, die Macht, die Künste bringen Verderbtheiten hervor, die menschlichem Begreifen ebenso fernliegen wie die Ausschweifung, und zu denen der Zugang ebenso schwierig ist. Aber hat der Mensch erst einmal diese großen Geheimnisse im Sturm genommen, schreitet er wie in einer neuen Welt. Generäle, Minister, Künstler werden allesamt mehr oder weniger zur Zügellosigkeit getrieben, weil sie das Bedürfnis haben, ihrem so weit vom gewöhnlichen Leben entfernten Dasein außerordentliche Zerstreuung entgegenzusetzen. Letztendlich ist der Krieg die Ausschweifung des Blutes, wie die Politik die Ausschweifung der Interessen ist. Alle Exzesse sind Geschwister. Diese sozialen Ungeheuerlichkeiten haben die Gewalt von Abgründen; sie ziehen uns an, wie Sankt Helena Napoleon an sich lockte; sie machen uns schwindlig, behexen uns, und wir lechzen danach, ihre letzten Tiefen zu ergründen, ohne zu wissen, warum. Vielleicht lebt in diesen Abgründen die Idee des Unendlichen; vielleicht bergen sie eine große Huldigung für den Menschen; dreht sich denn nicht alles um seine Person? Der Künstler braucht einen Kontrast zum Paradies seiner Arbeitsstunden, seiner Schöpferwonnen, er ist müde und ersehnt entweder wie Gott die Sonntagsruhe oder wie der Teufel die Lüste der Hölle, um mit der Anspannung der Sinne die Anspannung seiner Fähigkeiten auszugleichen. Lord Byrons Erholung konnte nicht das geschwätzige Boston46 sein, das einen Rentier entzückt; er war ein Dichter, er brauchte Griechenland, um gegen Mohammed zu spielen. Wird der Mensch nicht im Krieg ein Racheengel, ein Henker kolossalen Ausmaßes? Bedarf es nicht ganz außerordentlicher Reize, damit wir die wilden Schmerzen, die Feinde unserer gebrechlichen Hülle, ertragen, welche die Leidenschaften wie mit einem dornigen Gürtel umgeben? Hat der Raucher, wenn er sich nach übermäßigem Tabakgenuß in Krämpfen wälzt und Todesqualen aussteht, nicht in unbekannten Regionen wundervolle Feste erlebt? Hat nicht Europa, ohne sich Zeit zu lassen, bis seine Füße trockneten, die bis zum Knöchel in Blut gewatet sind, unaufhörlich immer wieder Krieg angezettelt? Also erfährt der Mensch in seiner Gesamtheit ebenso einen Rausch wie die Natur ihre Anwandlungen von Liebe? Für den Privatmann, für den Mirabeau, der in einer Zeit des Friedens vegetiert und von Stürmen träumt, birgt Ausschweifung alles in sich, sie ist für ihn ein unaufhörliches Umschlingen des ganzen Lebens, oder vielmehr ein Duell mit einer unbekannten Macht, mit einem Ungeheuer. Zuerst erschreckt ihn das Ungeheuer, man muß es bei den Hörnern fassen, was unerhörte Anstrengungen erfordert. Hat die Natur euch einen zu engen oder trägen Magen gegeben? Zwingt ihn, weitet ihn; lernt den Wein vertragen, zähmt den Rausch, bringt die Nächte schlaflos zu und entwickelt schließlich das Naturell eines Kürassierobersten, so erschafft ihr euch selber ein zweites Mal, wie Gott zum Trotz! Wenn der Mensch sich auf diese Weise verwandelt hat, wenn der Neuling – ein alter Soldat – seine Seele an den Donner der Geschütze, seine Beine an den Marsch gewöhnt hat, ohne noch dem Ungeheuer verfallen zu sein, ohne noch zu wissen, wer von beiden die Oberhand gewinnen wird, dann wälzen sie sich wild im Kampfe, bald Sieger, bald Besiegter, in einer Sphäre, wo alles wundervoll ist, wo die Seelenqualen einschlummern und nur Trugbilder des Geistes aufleben. Und schon ist dieser wilde Kampf zum Bedürfnis geworden. Da der Ausschweifende eine leibhafte Verkörperung jener Fabelgestalten ist, die der Legende nach dem Teufel ihre Seele verkauft haben, um von ihm die Macht zu erlangen, Böses zu tun, hat er den Tod gegen alle Genüsse des Lebens getauscht, gegen überschäumende, fruchtbare Lust! Anstatt gemächlich zwischen zwei eintönigen Ufern dahinzufließen, in einem Kontor oder einer Studierstube, schäumt und sprudelt das Leben wie ein Sturzbach. Kurz, Ausschweifung ist für den Körper, was mystische Freuden für die Seele sind. Die Trunkenheit taucht den Menschen in Träume, deren phantastische Gebilde so seltsam sind wie