Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
doch nichts tun, der Tag ist verloren; ich meine, wir setzen uns zum Frühstück.«
Nach diesen Worten ging Taillefer hinaus, um das Nötige anzuordnen. Müde und mißmutig brachten die Frauen vor den Spiegeln ihre Toiletten in Ordnung. Alle schüttelten sich. Die Verderbtesten predigten den Maßvollsten Moral. Die Kurtisanen spöttelten über jene, die nicht die Kraft zu finden schienen, dieses wilde Gelage fortzusetzen. Nach einer Weile kam neues Leben in diese Gespenster, sie bildeten Gruppen, plauderten und lachten. Einige Bediente stellten geschickt und flink die Möbel und übrigen Dinge wieder auf ihren Platz. Ein üppiges Frühstück wurde aufgetragen. Die Gesellschaft stürzte in den Speisesaal. Wenngleich auch dort alles den untilgbaren Stempel der nächtlichen Ausschweifungen trug, gab es darin doch wenigstens noch eine Spur von Leben und Denken, wie in den letzten Zuckungen eines Sterbenden. Wie bei dem Fastnachtszug wurde die Saturnalie von Masken beerdigt, die, ihrer Tänze müde, ihren Rausch satt hatten und nun alles Vergnügen fad fanden, um sich die eigene Ohnmacht nicht eingestehen zu müssen. In dem Augenblick, wo diese unverzagte Gesellschaft sich um die Tafel des Kapitalisten scharte, tauchte das sanft lächelnde Beamtengesicht Cardots auf, der sich am Abend vorher klüglich nach dem Diner verdrückt hatte, um seine Orgie im Ehebett zu beschließen. Er machte eine wichtige Miene. Er schien geahnt zu haben, daß es eine Nachfolge, einen Nachlaß zu teilen, zu inventarisieren, urkundlich festzuhalten gälte, einen Nachlaß mit vielen Aktenstücken und fetten Honoraren, so saftig wie das zitternde Filet, in das der Gastgeber gerade sein Messer stach.
»Oh, oh! wir sollen im Beisein des Notars frühstücken!« rief Monsieur de Cursy.
»Sie kommen gerade zurecht, um all diese Stücke zu rubrizieren und zu paragraphieren«, sagte der Bankier zu ihm und wies auf das prächtige Frühstück.
»Es ist kein Testament zu machen, aber vielleicht Eheverträge«, meinte der Gelehrte, der seit einem Jahr glücklich verheiratet war.
»Oho!«
»Aha!«
»Einen Augenblick«, erwiderte Cardot, den ein ganzer Chor von schlechten Witzen niederschrie, »ich komme in einer ernsten Sache. Ich bringe einem von Ihnen sechs Millionen.« (Tiefes Schweigen). »Monsieur«, wandte er sich an Raphael, der eben damit beschäftigt war, sich ohne viel Umstände mit einem Zipfel seiner Serviette die Augen auszuwischen, »war Ihre Frau Mutter nicht eine geborene O’Flaharty?«
»Jawohl«, antwortete Raphael mechanisch, »Barbe-Marie.«
»Haben Sie«, fuhr Cardot fort, »Ihren Geburtsschein und den der Madame de Valentin bei sich?«
»Ich glaube.«
»Also, Monsieur, Sie sind der einzige und ausschließliche Erbe des Majors O’Flaharty, der im August 1828 in Kalkutta gestorben ist.«
»Das ist ja ein Vermögen, das nicht zu ›kalkuttieren‹ ist!« rief der Nörgler.
»Der Major hatte testamentarisch mehrere Legate für öffentliche Anstalten ausgesetzt, und nun hat die französische Regierung bei der Indischen Handelsgesellschaft den Nachlaß eingefordert«, fuhr der Notar fort; »die Erbschaft ist in diesem Augenblick flüssig und kann angetreten werden. Seit vierzehn Tagen suchte ich vergebens die Rechtsnachfolger der Demoiselle Barbe-Marie O’Flaharty, bis gestern bei Tisch …«
In diesem Augenblick sprang Raphael plötzlich mit einer heftigen Bewegung auf wie jemand, der eine Wunde empfängt. Es ging wie ein schweigender Zuruf durch den Raum; die erste Regung der Gäste wurde von dumpfem Neid diktiert; alle Blicke richteten sich wie stechende Flammen auf ihn. Dann begann ein Murmeln, ähnlich dem Murren eines unzufriedenen Theaterpublikums; eine rebellische Stimmung kam auf und wuchs, und jeder sagte ein Wörtchen, mit dem er das ungeheure Vermögen, das der Notar gebracht hatte, begrüßte. Raphael, durch den prompten Gehorsam des Schicksals wieder völlig bei Sinnen, legte sofort die Serviette auf den Tisch, an der er vor wenigen Stunden das Chagrinleder gemessen hatte. Er hörte auf keine der Bemerkungen, legte den Talisman darauf, und ein Schauder überlief ihn, denn er bemerkte zwischen der auf das Leinen gezogenen Kontur und der des Leders einen kleinen Abstand.
»Nun, was hat er denn?« rief Taillefer, »er ist wohlfeil zu seinem Vermögen gekommen.«
»Steh ihm bei, Châtillon!« zitierte Bixiou, zu Émile gewandt, »die Freude wird ihn töten!«
Eine furchtbare Blässe ließ jeden Muskel in dem welken Gesicht dieses Erben hervortreten, seine Züge verkrampften sich, die vorspringenden Partien seines Gesichtes wurden kreidebleich, die Höhlungen tiefschwarz, eine fahle Maske, die Augen starrten. Er sah den TOD. Dieser üppige Bankier im Kreise der verwelkten Kurtisanen, diese übersättigten Gesichter, dieser Todeskampf des Genusses waren ein leibhaftes Abbild seines Lebens. Dreimal sah Raphael seinen Talisman an, der zwischen den unbarmherzigen Linien auf der Serviette Spielraum hatte, er versuchte zu zweifeln, aber ein klares Vorgefühl machte seinen Unglauben zunichte. Die Welt gehörte ihm, er konnte alles und wollte nichts mehr. Wie ein Reisender in der Wüste hatte er ein kleines Quantum Wasser gegen den Durst und mußte sein Leben nach der Zahl der Schlucke bemessen. Er sah, daß jeder Wunsch ihm Tage seines Lebens kosten würde. Nun glaubte er an das Chagrinleder, er lauschte auf seinen Atem, fühlte sich schon krank, fragte sich: »Bin ich nicht schwindsüchtig? Ist nicht meine Mutter an einem Lungenleiden gestorben?«
»Oh, Raphael«, rief Aquilina, »jetzt werden Sie in Saus und Braus leben! Was schenken Sie mir?«
»Trinken wir auf den Tod seines Onkels, des Majors O’Flaharty! Das war ein Mann!«
»Er wird Pair von Frankreich werden.«
»Bah! was ist nach der Julirevolution ein Pair von Frankreich!« meinte der Nörgler.
»Wirst du dir eine Loge in den Bouffons nehmen?«
»Ich hoffe, Sie werden uns alle freihalten!« sagte Bixiou.
»Ein Mann wie er wird alles in großem Stil erledigen«, meinte Émile.
Das Hurra dieser lachenden Gesellschaft scholl Valentin in den Ohren, ohne daß er den Sinn eines einzigen Wortes zu fassen vermochte; unbestimmt gedachte er des eintönigen, wunschlosen Lebens eines bretonischen Bauern, der eine Herde Kinder hat, sein Feld bestellt, Buchweizen ißt, Apfelwein aus dem Krug trinkt, an die Jungfrau Maria und den König glaubt, am Osterfest zur heiligen