Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
de Saint-Pierre, Fénelon, Racine. Sie hielt sich bei ihrer Mutter im Kontor nur kurz bevor man zu Tisch ging auf, oder um sie ausnahmsweise zu vertreten. Vater und Mutter gefielen sich, wie alle diese Parvenus, die sich beeifern, die Undankbarkeit ihrer Kinder großzuziehen, darin, Cäsarine zu vergöttern, die glücklicherweise soviel von bürgerlicher Tugend besaß, daß sie diese Schwäche nicht mißbrauchte.
Frau Birotteau verfolgte den Architekten mit unruhigen und bekümmerten Blicken, indem sie mit Schrecken ihre Tochter auf die merkwürdigen Bewegungen des Zollstocks, dieses Spazierstocks der Architekten und Unternehmer, mit denen Grindot seine Maße nahm, hinwies. Dieser Zauberstab schien ihr ein verhängnisvolles Aussehen von übler Vorbedeutung zu besitzen, sie hätte die Mauern weniger hoch, die Zimmer weniger groß gewünscht, aber sie wagte nicht, den jungen Mann zu befragen, was bei dieser Zauberei herauskommen würde.
»Seien Sie ganz beruhigt, gnädige Frau, ich nehme nichts mit«, sagte der Künstler lächelnd.
Cäsarine mußte mitlachen.
»Lieber Herr,« sagte Konstanze, ohne den Scherz des Architekten zu verstehen, mit flehender Stimme, »seien Sie recht sparsam, wir werden Sie später schon dafür entschädigen …«
Bevor er zu Molineux, dem Eigentümer des Nachbarhauses sich begab, wollte Cäsar noch den Privatvertrag über die Mietsabtretung, den Alexander Crottat ihm hatte aufsetzen sollen, abholen. Beim Fortgehen bemerkte Birotteau am Fenster von Roguins Arbeitszimmer du Tillet. Obgleich das Verhältnis seines früheren Kommis mit der Frau des Notars die Anwesenheit du Tillets zu der Stunde, in der die Terrainverträge unterzeichnet werden sollten, nicht auffallend erscheinen ließ, fühlte sich Birotteau, trotz seines unbegrenzten Vertrauens, beunruhigt. Du Tillets lebhaftes Benehmen ließ auf eine Diskussion schließen. »Sollte er auch seine Finger in der Sache haben?« fragte er sich, indem die kaufmännische Vorsicht sich bei ihm geltend machte. Ein Verdacht durchzuckte ihn wie ein Blitz. Als er sich umwandte, erblickte er Frau Roguin, und nun erschien ihm die Anwesenheit des Bankiers nicht mehr so verdächtig. – Trotzdem fragte er sich: »Sollte Konstanze doch recht haben? Aber was bin ich töricht, auf Weibergedanken einzugehen! Ich werde übrigens noch heute früh mit dem Onkel reden. Von dem Holländischen Hof, wo dieser Herr Molineux wohnt, nach der Rue des Bourdonnais ist es ja nur ein Katzensprung.«
Ein mißtrauischer Beobachter, ein Kaufmann, der in seiner Laufbahn schon auf etliche Betrüger gestoßen ist, wäre gerettet gewesen; aber Birotteaus Vergangenheit, seine Unfähigkeit zu Induktionsschlüssen, durch die ein überlegener Mann zu den Gründen gelangt, alles dies schlug zu seinem Verderben aus. Er traf den Schirmhändler bereits in Besuchstoilette und wollte mit ihm zu dem Hauseigentümer gehen, als Virginia, seine Köchin, ihn am Arme festhielt.
»Herr Birotteau, die gnädige Frau will nicht, daß Sie weggehen …«
»Was denn,« rief Birotteau aus, »wieder diese Weiberideen!«
»… ohne daß Sie Ihren Kaffee getrunken haben, der auf Sie wartet.«
»Ach so, ja richtig. Lieber Nachbar,« sagte Birotteau zu Cayron, »ich habe so viel im Kopf, daß ich gar nicht an meinen Magen denke. Tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie voraus, wir treffen uns vor der Tür des Herrn Molineux, oder vielleicht gehen Sie hinauf und setzen ihm die Sache auseinander, dann würden wir noch weniger Zeit verlieren.«
8
Herr Molineux war ein kleiner komischer Rentier, wie solche nur in Paris existieren, ebenso wie eine gewisse Art Moos nur in Island wächst. Dieser Vergleich ist um so treffender, als dieser Mensch ein Zwitterwesen war, das einem Tier-Pflanzenreich angehörte, wie es ein neuer Mercier aus Cryptogamen zusammenstellen könnte, die auf, in, oder unter dem Mauerputz verschiedener eigenartiger und ungesunder Häuser aufsprossen, blühen und absterben, wo diese Wesen mit Vorliebe erscheinen. Beim ersten Anblick zeigte diese doldentragende Menschenpflanze, wie man mit Rücksicht auf ihre blaue röhrenförmige Mütze, die sie bekrönte, sagen kann, mit ihrem von einer grünlichen Hose umkleideten Stengel und ihren von Bänderschuhen umhüllten zwiebelartigen Wurzeln eine blasse, glatte Physiognomie, die nichts von Gift verriet. In diesem merkwürdigen Produkt mußte man den Leichtgläubigen par excellence erkennen, der alle Nachrichten, die die Presse mit ihrer Tinte tauft, glaubt, und der alles gesagt zu haben meint, wenn er sagt: Lesen Sie nur die Zeitung! Der Bourgeois, der ja im Grunde durchaus ein Freund der Ordnung ist, revoltiert stets innerlich gegen die herrschende Macht, gehorcht ihr aber immer; er ist als Masse schwach, aber im einzelnen grimmig, gefühllos wie ein Gerichtsvollzieher, wenn es sich um sein Recht handelt, aber seine Vögel mit frischem Samen und seine Katze mit Fischgräten fütternd; ein Mensch, der das Ausschreiben einer Mietsquittung unterbrach, um seinem Kanarienvogel etwas vorzupfeifen, mißtrauisch wie ein Gefängniswärter, steckte er Geld in irgendein schlechtes Geschäft, um den Verlust dann durch den schmutzigsten Geiz wieder einzubringen. Die Bösartigkeit dieser Bastardpflanze zeigte sich erst beim Gebrauch; ihre ekelhafte Bitterkeit verlangte danach, bei irgendeinem Geschäft, wo ihre Interessen mit denen von Menschen verknüpft waren, ins Kochen zu geraten. Wie alle Pariser hatte auch Molineux ein Herrschbedürfnis, er verlangte seinen mehr oder weniger bedeutenden Anteil am Regieren, den jeder, selbst ein Portier, über ein Schlachtopfer irgendwelcher Art auszuüben wünscht, über die Frau, das Kind, den Mieter, den Angestellten, das Pferd, den Hund oder den Affen, denen man, um sich schadlos zu halten, die Demütigungen zurückgibt, die man selbst in der höheren Sphäre, nach der man strebt, hat hinnehmen müssen. Dieser kleine langweilige Alte hatte nun weder Weib, noch Kind, noch Neffen, noch Nichte; seine Aufwartefrau behandelte er so grob, daß er kein Aschenbrödel aus ihr machen konnte, denn sie vermied jede Berührung mit ihm, wenn sie ihren Dienst verrichtete. Sein Verlangen, zu tyrannisieren, wurde hier also nicht erfüllt; um es anderweitig zu befriedigen, hatte er geduldig die gesetzlichen Bestimmungen über Mietsverträge und die Grenzmauern studiert, hatte sich in die Jurisprudenz vertieft, soweit sie sich auf den Pariser Hausbesitz bezieht, und zwar mit all den unzähligen Nebenumständen, wie Servituten, Steuern, Lasten, Kehrerlohn, Teppichaushängen am Fronleichnamsfest, Abflußrohren, Beleuchtung, Vorspringen in die Baufluchtlinie, Nachbarschaft von gesundheitsgefährdenden Fabriken. Seine Mittel; seine Tätigkeit, sein