Sechs Schlüssel ins Jenseits. Günther R. Leopold

Sechs Schlüssel ins Jenseits - Günther R. Leopold


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Chauffeur, Kammerdiener und Krankenpfleger, wenn es darauf ankam – kurz, ein von allen respektierter Vertrauter Seiner Lordschaft. Und die Honoratioren von Glowchester City fanden nichts daran, einen tiefen Bückling vor ihm zu machen.

      Dass eine so wichtige Persönlichkeit ein Lokal wie den »Harry zur See« mit ihrer Anwesenheit beehrte, hatte einen allseits bekannten Grund: Jeden zweiten Freitag im Monat traf sich in Glowchester Court eine in vielerlei Hinsicht sehr unterschiedliche Herrenrunde. Die Treffen dauerten manchmal bis in die Morgenstunden, und Mr. Tobias hatte dafür zu sorgen, dass der seltsamen Freundesrunde an leiblichen Genüssen nichts fehlte. Daher war es zu einer Art Ritual geworden, dass der Butler am Donnerstag vorher Glowchester Citys Geschäfte nahezu leerfegte, worauf sich die hiesige Kaufmannschaft entsprechend vorbereitete. Alles wurde der Herrschaft Freitagfrüh zeitgerecht geliefert. So konnte Mr. Tobias einem zweiten Ritual frönen, nämlich seiner regelmäßigen Einkehr am Donnerstagabend im »Harry zur See«. Der Wirt wusste schon, welches Getränk sein Gast bevorzugte, wobei man sich fragen konnte, ob Mr. Tobias’ Lieblingsgetränk ein Tee mit Rum oder ein Rum mit Tee war.

      Bei des Butlers Eintritt war das Gespräch über Lord Glennfords junge Gattin sofort verstummt. Zum Glück gab es weiteren Gesprächsstoff, der in letzter Zeit ebenfalls für allgemeines Interesse gesorgt hatte. »Es ist natürlich purer Unsinn, wenn einige Leute behaupten, die ›Singende Nora‹ wieder gesehen zu haben«, ereiferte sich der Vikar, um hierauf salbungsvoll fortzufahren: »Gott, der Herr, gibt jeder verschiedenen Seele die ewige Ruhe!«

      »Und wenn ich euch sage«, widersprach ein anderer, »der Gärtner selbst hat sie gesehen, als er Rosen nach Glowchester Court brachte. Sie ist zwischen den Bäumen in Richtung Ruine gehuscht.«

      Mr. Tobias hörte interessiert zu. »Schade, mir ist dieses Mädchen, das durch ihren Gesang den jungen Burgherrn betört haben soll, worauf sie sein Vater hinrichten ließ, noch nie begegnet!«

      »Fama crescit in eundo«, prunkte der Vikar mit seinen Lateinkenntnissen. »Übrigens gibt es eine zweite Version dieser sagenhaften Erzählung, die mir geschichtlich viel wahrscheinlicher erscheint.«

      »Was Sie nicht sagen«, mischte sich der Wirt ein.

      »Ein Mädchen namens Nora soll es tatsächlich gegeben haben. Bestimmt haben einige von Ihnen schon«, der Vikar räusperte sich, »von der verwerflichen Unsitte des ›Rechts der ersten Nacht‹ gehört, die besonders in Deutschland, aber auch in England ihre Anhänger hatte. Danach durfte der Burgherr vor der eigentlichen Hochzeitsnacht die Defloration der Braut vornehmen. Manche Jungfrau empfand das als Ehre, andere hingegen als große Schande. Das Mädchen Nora gehörte zweifellos zu Letzteren. Sie soll sich, Psalme singend, vom Altan der Burg gestürzt haben, um nicht auf so schändliche Weise ihrer Jungfernschaft beraubt zu werden.«

      »Ach was, egal welche Version auch stimmen mag«, warf Mr. Humps ein – Opposition und Besserwissen gehörten nun einmal zu seinem Charakter –, »wenn man einige Schluck’ zu viel getrunken hat, und der Mond auf den Wald scheint, kann man leicht flechtenbewachsene Baumstämme für eine geisterhafte Gestalt halten.« Der Redakteur hielt erschöpft inne, da es ein langer Satz gewesen war und er an schwerem Asthma litt.

      »Der Gärtner trinkt nicht!«, widersprach der Wirt des »Harry zur See«, der es ja wissen musste. Mr. Humps sah sich um die Wirkung seiner Logik gebracht. »Aber der Pächter drüben am Creek Hill soll die Erscheinung auch schon beobachtet haben. Wie dem auch sei, meiner bescheidenen Meinung nach seid ihr, die Glowchester Bürger, in euren Spuk ja geradezu vernarrt!« Damit hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen, denn was wäre ein englisches Schloss ohne Gespenst gewesen?

      »Doch gestern Nacht«, ereiferte sich nun der Apotheker, indem er beteuernd an seine Brust klopfte, »habe ich selbst …«

      Mr. Tobias fand es an der Zeit aufzubrechen, denn er kannte den Apotheker als berüchtigten Schwätzer, dessen höchster Lebenszweck es war, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen.

      Der Butler trat auf die Straße und zog den Umhang, den er über seinem Gehrock trug, enger zusammen. Es war kalt, und der heiße Tee mit Rum, den der Wirt des »Harry zur See« so herrlich zu mischen verstand, hatte ihm gutgetan. Er schritt rüstig aus, denn bis Glowchester Court war es zu Fuß ein schönes Stück Weges.

      Er beeilte sich, als er bereits den Kiesweg nach Glowchester Court entlangschritt. Die Wolken hatten sich verzogen und ließen den düsteren Park in einem unwirklichen Licht erscheinen. Man konnte verstehen, dass ein nächtlicher Spaziergang durch Glowchesters Wald starke Nerven erforderte.

      Abgestorbene Äste von alten Weidenbäumen reckten sich drohend dem einsamen Wanderer entgegen. Hie und da schrie in der nahe gelegenen Ruine ein Kauz. Der Totenvogel rief, so klang es.

      Mr. Tobias war diesen Weg schon öfters zu später Stunde gegangen, doch heute fühlte er zum ersten Mal so etwas wie Angst. Er schüttelte unwillig den Kopf. Wie einen solch dumme Geschichten doch unwillkürlich beeindrucken konnten. Aber die heimliche Furcht wollte nicht weichen. Der Wald schien heute anders als sonst.

      Plötzlich blieb er stehen und horchte angestrengt. Da war doch ein seltsamer Ton zu vernehmen gewesen? War es nur der eigene Atem, den der Butler hörte? Stoßweise, keuchend, geradezu nach Luft ringend? Schon wollte Mr. Tobias seinen Weg fortsetzen, als er abermals zusammenschreckte: Jetzt war der Ton von vorhin wieder zu hören. Es war ein unsagbar trauriger Klang, der durch die Nacht irrte.

      Der Butler fühlte kalten Schweiß auf seiner Stirn stehen. Er duckte sich und zog die Schultern ein, als ob er dadurch die unbekannte Gefahr abwenden könnte. »Die Singende Nora«, dachte er im ersten Augenblick, doch schon im nächsten Moment verwarf er den Gedanken wieder. Unsinn, es gab keine Spukgestalten! Seine überreizten Sinne spielten ihm wohl einen Streich.

      Er horchte noch immer, doch nichts war mehr zu hören. Nur der Wind strich durch die kahlen Baumkronen und bewegte die Äste, die seltsame Schatten warfen. Mit einer fahrigen Bewegung wischte sich Mr. Tobias den Schweiß von der Stirn, dann hastete er weiter. Er würde froh sein, wenn er die schützenden Mauern von Glowchester Court endlich sehen konnte. Ab und zu blieb er stehen und lauschte ängstlich. Nichts war zu hören. Doch jetzt schien ihm sogar das Schweigen gefährlich.

      Als er bereits drei Viertel des Weges zurückgelegt hatte und die Türme des Herrenhauses vor sich sah, stockte er erneut. Diesmal war es bestimmt keine Täuschung: Er vernahm deutlich den schon vorher gehörten, traurigen Klang. Von überallher schien er zu kommen! Nahe, unheimlich nahe – und doch entfernt: Als ob sich der Ton im Wald verirrt hätte.

      Der Butler war bestimmt kein Feigling, aber in diesem Augenblick stürzte er blindlings vorwärts, getrieben von nur einem Gedanken: Glowchester Court so schnell wie möglich zu erreichen. In weiten Sätzen hastete er dahin und hatte dennoch das Gefühl, als ob die wehmütige Melodie immer näher käme.

      Jetzt hatte er den Rasen, der sich vor der Hauptfront des Schlosses erstreckte, erreicht. Nach Atem ringend stürzte er auf das große Eingangstor zu und stolperte die nach oben führenden Steinstufen empor.

      Er glaubte, es ganz deutlich zu spüren, wie sich eine kalte Hand auf seine Schultern legte. Furchterfüllt drehte er sich um. Etwa ein Dutzend Schritte hinter ihm stand eine weiß umhüllte Gestalt, die ihm zuwinkte und gleich darauf zwischen den Bäumen verschwand.

      3

      Am Anfang dürfte es wohl nur Zufall gewesen sein, dass sich Freunde und Bekannte von Lord Glennford am zweiten Freitag jedes Monats zu einer abendlichen Gesprächsrunde eingefunden hatten. Aber längst war daraus Tradition geworden. An jedem dieser Freitage trafen nachmittags – zumeist aus London kommend – immer dieselben Gäste in Glowchester Court ein, um nach einem gepflegten Dinner so etwas wie ein Round-Table-Gespräch zu führen. Obwohl Politik und Wissenschaft dabei die Hauptthemen waren, hatte in letzter Zeit ein neuer Gesprächsstoff alles andere in den Hintergrund treten lassen. Es ging um Geschichte. Es ging um die bedeutungsvolle englische Historie, die aus Britannien sowohl in religiöser, staatsmännischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht eine unangreifbare Insel gemacht hatte.

      Nur zu verständlich, dass in den Gesprächen Persönlichkeiten


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