Sechs Schlüssel ins Jenseits. Günther R. Leopold
Dort hat es einige Vorkommnisse gegeben, die ich im Auftrag unseres Ordens, na, sagen wir, aufklären soll. Das wird einige Zeit beanspruchen. Doch meine Südamerika-Aufgabe wird nicht für ewig sein. Ich freue mich schon auf unser Wiedersehen; Eure Lordschaft wird dann im besten Mannesalter sein.« Er umarmte Douglas und wollte gehen, aber der junge Lord hielt ihn zurück.
»Einen Augenblick noch, ich habe ein Geschenk für Sie!«
»Ein Geschenk?«, staunte der Padre. »Wie komme ich dazu, dass Sie mir …«
»Vielleicht ist es gar kein Geschenk«, unterbrach Douglas. »Vielleicht ist es mehr eine Verpflichtung.« Er suchte kurz in seinen Taschen und zog einen seltsam geformten Schlüssel hervor. »Die Bruderschaft der wahren Christen soll kein leeres Gerede sein. Und wie mein Stiefbruder Frank so nachdrücklich ausführte, bedarf es hierzu einer Menge Geld, vielleicht sogar eines Schatzes.«
»Heißt das, an der Geschichte mit dem sagenhaften Schatz ist wirklich etwas dran?«, wollte der Padre wissen.
Sein ehemaliger Schüler ging auf diese Frage nicht ein. »Das hier ist einer von sechs Schlüsseln, alle mit einem kleinen Kettchen versehen, sodass man sie leicht um den Hals tragen kann. Es wird noch fünf weitere Schlüsselbesitzer geben, die einander teilweise kennen werden. Sollte mir etwas zustoßen, müssen sich alle zu erkennen geben und gemeinsam nach dem Glennford-Schatz in Glowchester Castle suchen. Ein Schlüssel allein würde nicht genügen.«
Der Padre blieb skeptisch. »Ein Schatz, ein richtiger Schatz, das klingt wie ein Märchen.«
Seine Lordschaft konnte sich ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen. »Vielleicht ist es gar kein Schatz, vielleicht handelt es sich nur um viel, viel Geld.«
»Bei mir können Sie sicher sein, dass ich, was wir auch finden, unserer gerechten Aufgabe zukommen lasse. Aber sechs Schlüssel, das bedeutet auch sechs verschiedene Persönlichkeiten. Und Geld, noch dazu viel Geld, verdirbt oft den besten Charakter. Ich habe Angst, lieber Freund, große Angst: Die sechs Schlüssel könnten zu sechs Schlüsseln ins Jenseits werden …«
4
Seit Padre Cruces Abschied war geraume Zeit vergangen. Inzwischen hatte sich einiges ereignet: Es gab weiterhin zahlreiche Diebstähle und Einbrüche, alle in den sogenannten besten Kreisen, und dazu das Rätsel, dass die Bestohlenen entsprechend hohe Geldbeträge gleichsam als Entschädigung erhielten. Daraufhin wurden die Untersuchungen in der Mehrzahl der Fälle eingestellt.
Trotzdem sei es wirklich sehr traurig, pflegte der Melancholiker zu kommentieren, weil gewisse Schmuckstücke doch mit persönlichen Erinnerungen verbunden wären. Oder sollte sich sein »Es ist wirklich sehr traurig!« nur auf die Einstellung weiterer polizeilicher Nachforschungen bezogen haben?
In dieser Zeit zeigten sich in Andy Burkes rotleuchtendem Haarschopf die ersten grauweißen Strähnen. Denn ein übelgelaunter Samuel Hutchingson war noch schlechter zu ertragen als einer, der gerade eine Erfolg versprechende Spur gefunden hatte. War es da ein Wunder, dass der Sergeant bei seiner schon vorhandenen Schwäche für alkoholische Getränke zu diesen mehr und mehr Zuflucht nahm? Natürlich war das dem Melancholiker nicht entgangen, weshalb er seinen Untergebenen »Mr. Tipsy« nannte, was ja bekanntlich so viel wie »angeheitert« bedeutet.
Sergeant Andy Burke hatte in diesem Augenblick die Freude, seinen Vorgesetzten mit der Nachricht zu überraschen, dass ihn der Chef, also der Superintendent, sofort (er hatte dieses Wort ausdrücklich betont) zu sprechen wünsche. Frumingways Stimme hatte sehr ärgerlich geklungen, was den Sergeanten insgeheim freute.
»Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen wartet eine wenig erfreuliche Unterredung auf mich«, lächelte der Melancholiker nachsichtig. »Na ja … so ist das eben, wenn ein Vorgesetzter einen noch höheren Vorgesetzten hat …« Mit dieser kryptischen Bemerkung verließ der Melancholiker den Raum.
Als langgedienter Untergebener hatte Andy Burke ein Ohr für die Stimme eines schlecht gelaunten Vorgesetzten. Der Superintendent war tatsächlich in mieser Stimmung. »Hutchingson! Was soll man von dem Ganzen halten?«, ärgerte er sich. »Da gibt es offenbar einen Dieb oder sogar Einbrecher, der sich Franky Hood nennt, was zweifellos auf ›Robin Hood‹ hindeuten soll. Er stiehlt und raubt und plötzlich ist mit alldem Schluss. Nichts geschieht mehr. Ja, sogar sogenannte Entschädigungen werden den Opfern angeboten.«
»… was bei Robin Hood bestimmt nicht der Fall gewesen wäre«, warf der Melancholiker ein.
»Was meinen Sie? Ach so – dafür gab der richtige Robin Hood von seinen Räubereien den Armen einiges ab, die Beute unseres Franky Hood verschwindet jedoch in unbekannte Kanäle. Worauf diese sonderbaren Diebstähle plötzlich aufhören, um nach kurzer Zeit erneut zu beginnen. Nach meinen letzten Informationen aber jetzt ohne die früheren Entschädigungen. Was hat das zu bedeuten?«
»Tja, wahrscheinlich ist unserem hochherzigen Gönner das Geld für die Opfer ausgegangen, was natürlich, hm, mehr als traurig ist.«
»Verschonen Sie mich heute mit Ihren Floskeln!« Der Superintendent schien wirklich äußerst schlechter Laune zu sein. »Sonderbar ist, dass die meisten dieser Diebstähle sich in Lord Glennfords Bekanntenkreis abspielten.«
»Auch die ungewöhnlichen Geldrückzahlungen?« Der Melancholiker kannte keine Hemmungen. »Sollten Sie vielleicht auch zu den, hm, Bestohlenen respektive Entschädigten gehören?«
»Was erlauben Sie sich!«, brauste der Superintendent auf.
»Ich erlaube mir nur danach zu fragen, weil Sie zweifellos zu Lord Glennfords guten Freunden gehören.«
»Scheinbar haben Sie vergessen – den Superintendenten von Scotland Yard zu bestehlen, davor wird man sich hüten!«
»Da werden Sie zweifellos recht haben. Andererseits, die Schlechtigkeit der heutigen Welt oder gar der Reiz, sich an den Ranghöchsten zu beweisen …« Der Melancholiker zog sich hinter eine zweifelnde Miene zurück. »Doch was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Sie werden mich ja kaum gerufen haben, um mit mir die wenig erfreulichen Phasen einer Diebstahlsserie zu besprechen.«
»Stimmt! Jetzt ist Winterzeit, wodurch Sie sich in Glowchester Court, dem Stammsitz der Glennfords, unbehelligt ein wenig umsehen können. Soweit ich weiß, beginnt der von Glennfords Stiefsohn inszenierte Touristenrummel erst Anfang Mai. Die Ruinen, samt dem erhaltenen Burgteil, sollen ja einen richtigen Schatz beherbergen. Gefunden hat ihn zwar noch keiner, doch vielleicht hat er sich auf wunderbare Weise um diverse Schmuckstücke vermehrt.«
»Schade, man sollte auch das ebenfalls sagenhafte Versteck kennen.«
»In Scotland Yard werden Sie es kaum finden. Ihr rothaariger Sergeant könnte Ihnen ja behilflich sein.«
»Sofern er dazu imstande ist … Wissen Sie, mein Untergebener macht gerade eine Jekyll-&-Hyde-Phase durch. Mal ist er der pflichtbewusste Andy Burke, mal der pflichtvergessene Mr. Tipsy. Aber vielleicht wird ihm Glowchesters kalte Winterluft guttun.«
5
»Einem Mr. Tipsy würde ich mein kostbares Leben nicht anvertrauen.« Chefinspektor Hutchingsons Miene zeigte ernste Besorgnis, was sich jedoch schlagartig änderte. »Aber einem gewissen Andy Burke jederzeit.«
Misstrauisch beäugte der Sergeant seinen Vorgesetzten. »Heißt das vielleicht, dass ich die Ehre habe, Sie wieder einmal chauffieren zu dürfen?«
»Sherlock Holmes würde in Ihrer Mutmaßung ein Plagiat seiner scharfsinnigen Schlussfolgerungen sehen. Doch genug der Scherze. Superintendent Frumingway hat darauf bestanden, dass wir – ich betone ausdrücklich, dass wir uns in Glowchester umsehen sollen.«
»In dem Städtchen wird es hoffentlich eine nette Gastwirtschaft geben, wo wir uns etwas aufwärmen können.«
»Was Sie schon jetzt vergessen können. Es soll sich nämlich um eine – tja, sozusagen um eine dienstliche Inkognito-Recherche handeln.«
»Dann werde ich mir eben selbst eine innere Aufwärmung mitnehmen.« Mr. Tipsy ließ grüßen