Der Fuchs und Dr. Shimamura. Christine Wunnicke

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      Christine Wunnicke

      DER FUCHS

      UND DR. SHIMAMURA

      Roman

      B E R E N B E R G

      Bei Professor Charcots vorgestriger Dienstagsvorlesung wurde das wie immer dicht gedrängte Auditorium der Salpêtrière Zeuge eines interessanten Auftritts. Ein junger Japaner, der womöglich mit einer volkskundlichen Truppe nach Paris gekommen war, assistierte der Ärzteschaft bei einem Experiment zur induzierten Neurose. Sobald die Patientin in den hypnotischen Zustand versetzt war, wurde er von Charcots Gehilfen hinter einem Wandschirm hervorgeholt, und wirklich bedurfte es nicht mehr als seines Erscheinens, um der Somnambulen eine Szene vorzugaukeln, in welcher sie sich selbst als Orientalin träumte. Sie fabulierte, sang und schrie in einer fremden Sprache – Charcot erklärte, es sei Japanisch und das Phänomen bedürfe weiterer Studien – und umtanzte den Fremden weinend, bittend, lockend, wehklagend und mit einem großen Aufgebot pantomimischer Aktion, bei der sie Fächer, Dolche und allerlei sonstige exotische Requisiten zu gebrauchen schien, und brach schließlich zu seinen Füßen zusammen. Ebenso anrührend wie erschreckend war dieser Effekt. Der asiatische Gast ließ kaum eine Reaktion erkennen. Da ihn Charcots Gehilfe wie eine Gliederpuppe hinter dem Paravent hervorzog und nach vollendetem Experiment wieder zurückschob, wurde die Vermutung laut, er sei ebenfalls hypnotisiert. Aufgrund seiner orientalischen Züge, die uns ja stets recht leer und unbeseelt erscheinen, konnten wir diese Frage indes nicht entscheiden. Wir hoffen, in Zukunft mehr von diesem interessanten Gast zu sehen.

      G. Demachy, Le Temps, 24. März 1892

      Dr. Shimamuras Leben war von Tragödien geprägt. Nach seiner Heimkehr aus Europa 1894 war er wissenschaftlich kaum noch aktiv, weder im medizinischen Verein von Tokyo noch bei den Treffen der neurologischen Gesellschaft. Seine Studien zur Fuchsbesessenheit, die ersten ihrer Art, wurden von der Forschung ignoriert. Hinzu kam seine Krankheit. Was war diese Krankheit? Ich habe nachgeforscht, doch eine Antwort fand ich nicht.

      Yasuo Okada, »Kurze Geschichte des Psychiaters Shimamura Shunichi und seiner Missgeschicke«, Nihon Ishigaku Zasshi (Zeitschrift für japanische Medizingeschichte), Dezember 1992

      Gepriesen seien die Hysterie und ihr Gefolge junger nackter Frauen, die über die Dächer gleiten!

      André Breton, »Zweites Manifest des Surrealismus«, 1930

      EINS

      Der Winter ging zu Ende, und pünktlich stieg das Fieber. Deshalb begann Shimamura Shunichi, Professor emeritus für Nervenheilkunde an der präfekturalen medizinischen Hochschule zu Kyoto, wieder einmal über die Wege des Lebens nachzudenken. Die deutsche Sprache, die er zu diesem Zweck bevorzugte, verwob sich in seinem Kopf zu komplizierten, zunehmend überhitzten Gespinsten.

      Dr. Shimamura litt an der Schwindsucht. Vielleicht litt er auch noch an etwas anderem, für das er seit vielen Jahren weder im Deutschen noch im Japanischen oder Chinesischen und nicht einmal im Kauderwelsch der Medizin ein passendes Wort fand. In seinem Haus in Kameoka, Ende Februar 1922, saß er in einem Rattansessel zwischen seinem Schreibtisch und einer Farnpflanze, die in einer künstlich patinierten kleinen Metallurne steckte, und blickte gerade, reglos und ohne Brille aufs Fenster. Spätes Winterlicht, frühes Frühlingslicht färbte das Fensterpapier gelblich. Vielleicht würde das Fieber bald so sehr steigen, dass sich sein Denken vollends verwirrte. Davor wolle er zu Bett gegangen sein, dachte Shimamura, doch erst knapp davor, denn man könne ja schlecht immer vorsorglich zu Bett gehen.

      Er arbeitete seit langem an einer Studie oder Monografie oder einem Aufsatz oder Artikel über die Neurologie oder Psychologie oder experimentelle Psychologie des Gedächtnisses. Seit Jahren ordnete er in Gedanken, und selten auch in einem Notizbuch, Kapitel oder Abschnitte, die darin vorkommen würden, und konnte sich weder über Art noch Umfang des Textes schlüssig werden. Er hatte ihn das Oder-Projekt getauft. Auch über die Methodologie war er sich nicht im Klaren. Am liebsten hätte er die Hirnströme, welche wohl Erinnerung herstellten, galvanometrisch erfasst, und zwar die eigenen. Oder zumindest deren Systematik bestimmt. Nur besaß Shimamura keinen Galvanometer, ein Galvanometer maß auch Erinnerung nicht, und Erinnerung war nicht systematisch, zumindest nicht die von Shimamura Shunichi. Er wollte schließlich keine sinnlosen Silben memorieren und wieder hervorspucken und sich dann damit wichtig tun wie der selige Dr. Ebbinghaus in Halle. Shimamura strebte einen großen, tiefen Text über ein großes, tiefes Problem an. Er war sich sicher, er würde sterben, lange bevor daraus etwas werden könnte, was ihn gewissermaßen täglich tröstete. Auch schien ihm das Oder-Projekt eine Rechtfertigung, sich tagaus, tagein zu erinnern, an dieses und jenes, und oft auch an dessen jeweiliges Gegenteil.

      Shimamura fröstelte. Geübt richtete er seinen kranken Körper in dem Rattansessel so ein, dass er, wenn er zu zittern anfinge, ihn nicht knarzen machte. Er hatte einen verschlissenen braunroten Morgenmantel mit Fleur-de-Lis-Muster über den Kimono gezogen, ein warmes, schweres Kleidungsstück, dessen dicke Ärmel die Kimonoärmel um Shimamuras magere Arme herum verdrehten und knautschten. Immer nahm er sich vor, den Kimono über statt unter den Morgenmantel zu ziehen, was diese Lästigkeit behoben hätte, und nie tat er es.

      Der Morgenmantel war ein hassenswertes Objekt, von dem sich Shimamura nicht trennen konnte. Er stammte aus einem feinen Geschäft am Pariser Platz in Berlin. Vor bald vierzig Jahren hatte er ihn dort gekauft, im Hochsommer kurz nach einem Gewitter, als es schwül und heiß war und gar kein Wetter für ein solch plüschiges Kleidungsstück; aus Eitelkeit hatte er ihn gekauft, weil er sich in seinen jungen Jahren schon reif und weise fand und würdig eines altväterlichen Morgenrocks, vielleicht aber auch als Ansporn, in diesen Rock noch geistig hineinzuwachsen, und vor allem aus Trotz: weil er ihn sich als kaiserlicher Stipendiat wirklich nicht leisten konnte. Schon in seinen Berliner Tagen, wenn er sich dorthin zurückversetzte, erinnerte Shimamura Fieber.

      Er zupfte den linken Kimonoärmel aus dem zerschlissenen Morgenrockärmel, einen Zipfel beiges Hanfleinen. Die Farbe ähnelte dem Fensterpapier. Shimamura erinnerte sich an ein Kostümfest in Wien, bei dem er den damals noch taufrischen Fleur-de-Lis-Morgenrock getragen hatte und dazu eine Schlafmütze, die sich nachher als Damenschlafmütze herausgestellt hatte; als Molières Eingebildeter Kranker. Die ganze Nacht lang, während er sich allmählich immer mehr betrank, hatte er ein Requisit mit sich herumgetragen, das aus der Irrenanstalt am Bründlfeld entliehen war, ein Messgerät für Tremorschläge in einer Schatulle aus Schlangenlederimitat. Mädchen, bei denen schlechterdings jeder Hinweis fehlte, ob sie anständig waren oder von der Straße hereingeholt, hatten diese Schatulle befingert und dann auch den Morgenmantel und die Schlafmütze und Shimamura selbst. So hatte er eine ganze lange Wiener Faschingsnacht vergeudet, in einem Saal voller Unrat und buntem Papier. Vielleicht war er ärztlich tätig geworden, wenn jemandes Magen oder Nervenkostüm von all dem Gewalze zu revoltieren begann; aber vielleicht auch nicht. Wer hatte ihn wohl eingeladen? Sicherlich hatte er diese Person bitter enttäuscht. Schon als kaiserlicher Auslandsstipendiat war Dr. Shimamura kein sehr lustiger Mensch gewesen.

      Die Mädchen indes in ihren kurzen bunten Clownspuppenkleidchen hatte er gewiss glücklich gemacht. Mädchen und Frauen machte er immer glücklich. Sie hatten ein Faible für Shimamura Shunichi. Das war ein eigenes Kapitel in seiner Erinnerung. Und ›Faible‹ war nicht das richtige Wort und ›glücklich‹ wohl auch nicht.

      Shimamura holte eines seiner fast leeren Notizbücher aus der Schreibtischschublade und steckte es in die Tasche des Morgenrocks zu den Schnupftüchern und dem Fläschchen mit Kampfer.

      Dr. Shimamura hatte vier Pflegerinnen: Sachiko, seine Frau, Yukiko, deren Mutter, Hanako, seine eigene Mutter, sowie eine Dienstmagd, die er manchmal Anna, öfters allerdings Luise rief. Letztere hatte er anlässlich seiner Emeritierung aus der Kyotoer Irrenanstalt mitgenommen, als Souvenir, und auch weil dort niemand recht wusste, ob sie Patientin oder Krankenschwester war, und auch niemand ihren Namen erinnerte. Das hatte Shimamura leidgetan. Er war als weichherziger Klinikdirektor bekannt gewesen, immer darauf bedacht, dass sich niemand verletzte oder


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