Der Fuchs und Dr. Shimamura. Christine Wunnicke

Der Fuchs und Dr. Shimamura - Christine Wunnicke


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es viel zu weit. Der Tempel hatte zwar einen schönen Garten, aber seit Yukiko sich darauf verlegt hatte, dort gegen Eintritt die wundertätige Figur zu reiben, genierten sich die Eheleute Shimamura und machten um den Tempel einen Bogen. Und zum Fluss war es fast so weit wie zur Burg, und besonders schön war er auch nicht. So blieb nur Dahinspazieren. Sachiko setzte ihre Füße umsichtig auf den Weg, der von ihrem etwas abgelegenen Haus zwischen den Feldern gen Stadt führte. Bei jedem dritten Schritt nahm sie den Regenschirm hinzu. Sie versuchte, etwas Sinnfälliges auf diesem Weg zu erfühlen. Nach einer Weile gelang es ihr, eine Art Takt zu erzeugen, der die Sekunden ordentlich forträumte, und gab ihren Trotz auf. Immerhin regnet es nicht, dachte Sachiko, immerhin kommt keiner, den wir grüßen müssten, immerhin ist Februar.

      Shimamura murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Sie machte sich nicht die Mühe, nachzufragen, es war gewiss nur die eine oder andere Variation über den Satz »Man könnte hier mehr Erträge erwirtschaften«. Das sagte Shimamura immer, wenn er auf dem Weg zwischen den Feldern spazierte. Sein Leben lang hatte er sich am Feierabend mit den verschiedensten wichtigen Dingen befasst, ohne sie je zur Anwendung zu bringen, unter anderem mit der Agrarwissenschaft. »Ja, Lieber«, sagte Sachiko.

      Mit Ende fünfzig stand sie noch sehr aufrecht und stolz. Sie war ohnehin hoch gewachsen, mit langem Hals und langen Armen, die sie nie an ihrem Körper herabhängen ließ, sondern stets abwinkelte, damit sie sich ordentlich anfühlten. Ungern stand sie mit leeren Händen; daher auch der Regenschirm. Sachiko sah ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter ähnlicher als ihrer eigenen Mutter. Damals, als man sie verheiratet hatte, war das ständig Thema in der Familie gewesen: Wie gut das Paar von der Länge her zusammenpasste. Sonst war niemandem zu dieser Ehe etwas eingefallen. Sachiko hatte den jungen Arzt nicht unbedingt heiraten wollen. Er wirkte nervös und schien dauernd nachzudenken und zerbrach in zwei Wochen Brautwerbung zweimal seinen Brillenbügel; das gefiel ihr nicht. Doch sie hatte sich nicht gewehrt, weil es keine wichtigen Einwände gab.

      Auch Shimamura Sachiko dachte oft nach. Anders als Shunichi sah man ihr das jedoch nicht an. Selbst romantische Gedanken waren ihr als Mädchen nicht fremd gewesen, sie hatte geträumt, dass sie Flügel hätte, lange weiße Schwingen statt der langen weißen Arme, und dass sie fortflöge und in den Armen eines Mannes, der kein Arzt war und keine Ärzte in der Familie hatte, unvernünftige heiße Liebe fände. Das war allerdings lange her. Geblieben war ihr nur eine Vorliebe fürs Helle. Sie trug ein helles Kopftuch und ein helles Umschlagtuch über ihrer hellen Hauskleidung. Unter dem Kopftuch kam vorne ein wenig graues Haar zum Vorschein. Sachiko hoffte, dass es ganz weiß würde, wenn sie erst Witwe wäre.

      Shimamura Sachiko dachte oft lange und in allen Einzelheiten über ihre Verwitwung nach.

      »Es kam wieder ein Brief wegen deiner Holzschnitte«, sagte Sachiko. »Ein Deutscher aus Tokyo. Es will die Eisenbahn nehmen und herüberkommen und sie anschauen. Es schrieb auch ein Kollege, den du nicht kennst, wegen der Matten.«

      Shimamura betrachtete mit gerunzelten Brauen die ertragsarmen Felder von Kameoka. Er gab ein »hm« von sich, das kaum zu hören war. Shimamura dachte schon wieder nach. Das sah Sachiko, ohne den Kopf zu wenden.

      »Abschmettern?«, fragte Sachiko auf Deutsch.

      Wieder machte Shimamura »hm«. Diesmal klang es ein wenig beherzter.

      Das Abschmettern zählte seit Jahren zu Sachikos vielen Aufgaben in Kameoka. Sie öffnete die Korrespondenz ihres Mannes, und wenn es nicht einer seiner drei Freunde war, der geschrieben hatte – alles Ärzte, zwei in Kyoto und einer in Heidelberg –, so las sie den Brief von Anfang bis Ende, fragte dann pro forma nach oder manchmal auch nicht, und schmetterte ab. Was hatte das Deutsche für hässliche Wörter. Manchmal, wenn auch immer seltener, stellte sich Sachiko vor, dass sie als Touristin nach Deutschland reiste, etwa zum Starnberger See, und sich dort mit einem Einheimischen zu unterhalten versuchte. Abschmettern. Schnupftuch. Intravenös. Türklinke. Psychopathologie. Was für eine dumme, kurze Unterhaltung das wäre. Und in diesem Augenblick breitete sich eine Langeweile in Shimamura Sachiko aus, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Sie nahm ihr einen Augenblick lang den Atem und brachte sie aus dem Tritt. Sie starrte auf die Felder. In den Himmel. Hinüber zu ihrem Mann. Zurück in den Himmel. Und hinunter auf ihre weiß bestrumpften Zehen. Dann sagte sie »ach ja«. Sie zählte neun Schritte ab und drei Stöße des Regenschirms. Da zog sich die Langeweile zusammen und wurde aus einer weltbewegenden Langeweile wieder zur einer ganz normalen.

      »Der Deutsche war sehr nachdrücklich in seinem Wunsch, deine Holzschnittsammlung zu betrachten«, sagte Sachiko.

      Shimamura reagierte nicht. Da beharrte Sachiko nicht weiter. Sie hatte sich die beiden Briefe ohnehin ausgedacht. Da immer seltener Briefe kamen, dachte sie sich in regelmäßigen Abständen welche aus, damit Shimamura seinen Lebenswillen bewahrte. Solange einem jemand schreibt, dachte Sachiko, den man abschmettern kann, so lange fühlt man sich noch in der Welt. Und Matten und Holzschnitte ärgerten Shimamura immer. Er ärgerte sich, für psychiatrische Wandmatten und für eine Sammlung von Holzschnitten mit Fuchsmotiv bekannt zu sein und für nichts anderes. Solange man sich noch ärgert, dachte Sachiko, stirbt man nicht. Und dass es die Aufgabe einer Pflegerin sei, den Tod des Gepflegten herauszuzögern. Dies schien in der Tat eine Binsenweisheit, doch zuweilen musste es sich Sachiko ins Gedächtnis rufen.

      »Ach ja«, sagte Shimamura Shunichi.

      »Wollen wir umkehren?«

      »Noch die Biegung.«

      Wie immer gingen sie noch die Biegung. Dann machten sie sich langsam auf den Rückweg. Eine Wolke war vor der Sonne. Shimamura atmete schwerer. Sachiko erinnerte sich mit schlechtem Gewissen an den einen Brief, von dem sie ihrem Mann nie erzählt hatte. Den hatte sie aufgehoben, unter dem Boden des Südzimmers in einem holländischen Pharmakologiebuch ihres Vaters. Das war ein Brief von einem, der Shimamuras komplette Holzschnittsammlung wollte und schon den Preis dafür genannt hatte, einen guten. Dem würde Sachiko schreiben, wenn ihr Mann gestorben wäre, damit ihr all die Füchse nicht am Bein hingen, wenn sie Witwe war.

      Auf halbem Weg zum Haus, zwischen den Quittenbäumen, war jemand unterwegs. Sie hielten inne. Die Eheleute Shimamura grüßten ungern Nachbarn. Aber es war nur das Hausmädchen. Das stand zwischen den kahlen Quitten und sang.

      Im Langgras, im Kurzgras,

       in Uji und Kei

       hat mich der Liebste bezwungen,

       oh Großmama, Großmama, stirb bald,

       sonst müssen wir alle verhungern.

      Dann fing sie wieder von vorne an.

      Shimamura war stehen geblieben und hörte ihr zu. Dabei lächelte er, als höre er den ersten Frühlingsvogel oder sonst etwas Schönes. Sachiko sah ihren Mann nicht an, er war sogar ein wenig hinter sie getreten, fast als suche er Schutz, aber sie merkte sein Lächeln trotzdem.

      Das Mädchen hatte ein starkes Organ. Sie schien sich Zwang anzutun. Es klang, als halte sie sich den Mund zu beim Singen, dabei hielt sie doch mit beiden Händen einen Quittenstamm fest. Sie hatte die Shimamuras nicht gesehen. Ihr Gesang war verzweiflungsvoll, dabei auch ein wenig kunstreich, mit allerlei Tremolo. Sachiko trat gegen ein Steinchen, aber das Steinchen war zu klein, der Tritt war zu klein, und das Mädchen begann ihr Lied zum dritten Mal, mit Variationen, als sei sie allein auf der Welt. Shimamura lächelte noch immer hinter Sachikos Schulter. Sein Atem ging leichter.

      »Ich erinnere mich an dieses Lied«, flüsterte Shimamura. Das Mädchen erschrak, ließ den Baum los, bezähmte mühsam ihre eigensinnige Stimme, die noch immer das Wort ›Großmama‹ erbeben ließ, und lief davon.

      »Es gibt so ein Lied nicht«, sagte Sachiko. »Es gibt kein Lied mit ›Uji und Kei‹.«

      »Sie hat sich erschreckt und ist fortgelaufen«, kommentierte Shimamura. »Meine Mutter oder deine Mutter hat dieses Lied früher gesungen. Oder jemand anderes. Ich weiß noch den Text.«

      »Du solltest sie übrigens nicht Luise nennen«, sagte Sachiko. »Das kann sie nicht aussprechen. Sie läuft tagelang umher und murmelt Luise, Luise, bis sie sich ganz zermürbt hat. Und deine Mutter hat nie ein Lied mit ›Uji und Kei‹ gesungen,


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