Der Fuchs und Dr. Shimamura. Christine Wunnicke
Gestrüpp und Gestein in der sommerheißen Präfektur Shimane. Man schrieb, nach dem neuen Kalender, den Juli des Jahres 1891. Der junge Dr. Shimamura hatte vor kurzem in Tokyo promoviert. Er war der Lieblingsschüler des Neurologieprofessors Sakaki Hajime.
»Finden Sie nicht auch, Herr Doktor, bitte, ja?«, beharrte der Student.
Shimamura gab keine Antwort. Er war längst an das Geschwätz des Studenten gewöhnt, dessen Unhöflichkeit an Geistesverwirrung grenzte. Wie hieß der Student? Gewiss hatte Shimamura das einmal gewusst, aber später vergaß er es, er vergaß den Namen dieses Studenten später so völlig, dass es erstaunlich war. Und schon damals nannte er ihn immer nur ›Herr Student‹.
Sie kletterten durchs Unterholz. Shimamura trug seine Arzttasche mit dem Stethoskop, den gynäkologischen Spekula, dem Helmholtzschen Augenspiegel, dem Perkussionshammer und der dritten Auflage von Wilhelm Griesingers Pathologie der psychischen Krankheiten; der Student schleppte in einem großen englischen Seesack den fotografischen Apparat hinter ihm her. Shimamura trug Norfolk-Blazer und Strohhut und an den Füßen Knöpfstiefel. Um den Studenten flatterte ein kniefreier Bauernkittel, an seinen Füßen patschten Strohpantinen.
»Erinnern Sie sich auch an diese Geschichte, als Sie klein waren, Herr Doktor, dass einzeln stehengelassene Schuhe zu Schuhgeistern werden und einen umherjagen?«, fragte der Student.
Vor drei Tagen hatte ihn Shimamura in seiner Verzweiflung angewiesen, einheimische Kleidung auszuleihen und anzulegen. Dies gewinne das Vertrauen der Landbevölkerung. In Wahrheit hatte er gehofft, dass eine solche unwürdige Tracht dem Studenten vielleicht die Sprache verschlüge, was allerdings nicht eingetreten war. Jetzt verspürte Shimamura Neid auf all die Luft, die den Körper des Studenten erreichte, besonders am Hals. Der enge Hemdkragen scheuerte an Shimamuras Kehle und immer, wenn er den Kopf drehte, wurden die Carotidenpulse fühlbar. In seinem schmalen Schnauzbart reihten sich Schweißperlen.
»Wenn sich jedermann an genau dasselbe aus seiner Kindheit erinnert, ist es doch erstaunlich, dass die Menschen alle so unterschiedlich geraten!«, triumphierte der Student.
Shimamura wusste nicht, warum ihm Professor Sakaki diesen Studenten der Medizin, der wohl gerade einmal fünfzehn oder sechzehn Jahre zählte, als Gehilfen aufgedrängt hatte. Er wusste auch nicht, was Sakaki mit der Shimane-Expedition eigentlich bezweckte. »Reisen Sie nach Shimane«, hatte Sakaki gesagt, »und erforschen Sie die alljährlich dort auftretende Epidemie der Fuchsbesessenheit. Untersuchen Sie jede Fuchspatientin und stellen Sie eine Diagnose. Achten Sie besonders auf neurologische Fälle.« Obwohl er nun schon seit Tagen durch Shimane trabte und in den abgelegensten, elendesten Quartieren die armseligsten Fuchspatientinnen mit den kläglichsten Krankheiten diagnostizierte (Trunksucht, Kretinismus, Ovarialabszess mit Durchbruch ins Rektum), wusste Shimamura noch immer nicht, was sich Sakaki bei dieser Schikane gedacht hatte. »Wenn Sie keine Diagnose finden«, hatte Sakaki gesagt, »schreiben Sie einfach ›Fuchs‹, haha.« Professor Sakaki scherzte gern. Vielleicht war die ganze Expedition nichts als ein Scherz von Professor Sakaki.
Es dauerte fast zwei Wochen von Tokyo bis Shimane. Man ging zu Fuß. Man ließ sich von Sänftenträgern in Sänften tragen. Man fuhr in der Rikscha, wobei einem der Student fast auf dem Knie saß und dauernd mit einem redete. Der Student war der Spross einer uralten Familie mit Verwandtschaftsbeziehungen, über die man nur staunen konnte. Es gab Großväter, Großonkel, Großtanten dieser Familie, die an ausgefallenen, altertümlichen Krankheiten gestorben waren, sobald Japan seine Grenzen geöffnet hatte. Es gab auch einen Fächer, mit dem ein Ahnherr des Studenten vor vierhundert Jahren eine Schlacht verloren hatte, weil er ihn zur falschen Zeit gehoben hatte. Dieser Fächer wurde im Familienschrein verwahrt und gemahnte die Familie seit vierhundert Jahren an den Wert der Bescheidenheit. All das hatte der junge Student in Rikscha und Gasthaus zwei Wochen lang Shimamura Shunichi in allen Einzelheiten anvertraut, während er ununterbrochen sein Pfeifchen rauchte. Anders als Shimamura wusste er auch viel über Füchse. Er hatte wahrscheinlich die Fuchsgöttin Inari persönlich und Unmengen weitere abergläubische Sachverhalte in seinem Familienstammbaum. Der Student wusste vierhundert Jahre alte Fuchsbesessenheitsgeschichten, die sich sämtlich unter den Vasallen seiner hochmögenden Familie zugetragen hatten. Die berichtete er ebenfalls im Detail.
Daheim in Tokyo hatte Shimamura über paralytische Beriberi und erbliche Schwermut gearbeitet. Er hatte sich auf seine Europareise vorbereitet, die er in Bälde antreten wollte, sobald ein Stipendium bewilligt wäre. Er hatte auch gerade geheiratet, eine unfreundliche, hochaufgeschossene Arzttochter, die ihm ein Rätsel war. Der junge Shimamura Shunichi verstand von Frauen nicht mehr als von Füchsen. Er kam auch nicht gut an bei Frauen. Auch bei Patientinnen nicht. Er konnte von Glück sagen, dass erbliche Schwermut und paralytische Beriberi das schöne Geschlecht für gewöhnlich verschonten. Vielleicht war auch die Arzttochter Sachiko, die ihn hatte heiraten müssen, weil er Professor Sakakis Lieblingsschüler war, von Natur aus gar nicht so unfreundlich, sondern wurde erst unfreundlich in Shimamuras Gegenwart. War vielleicht dies die Pointe des Scherzes von Professor Sakaki? Es ist ja kein Fuchs, Herr Doktor! Es ist eine Füchsin! Füchsinnen fahren in Frauenzimmer! Alles fest in weiblicher Hand! So dozierte der Student jeden Tag. Saß Professor Sakaki Hajime an seinem schönen englischen Schreibtisch neben seiner schönen kleinen Statue der Hygieia in der kaiserlichen Universität zu Tokyo und lachte sich ständig ins Fäustchen, weil ausgerechnet Shimamura Shunichi wochenlang bei Gluthitze nichts als altmodisches Weiberirresein betrachten musste, und zwar ohne jeden wissenschaftlichen Nutzen?
»Nun halten Sie einmal den Mund«, sagte Shimamura zum Studenten, der eben gar nichts gesagt hatte. Eine trockene Wurzel fing Shimamuras Stiefel. Er stolperte. Er tat sich an den Zehen weh. »Dort ist ein Schatten, Herr Doktor«, plärrte der Student und zeigte auf den mageren Stamm eines mageren, blattarmen Baumes. Der Student grünte und blühte im Heißen. Shimamura litt unter niedrigem Blutdruck und der sommerlichen Dyspepsie der Astheniker. Er verfügte sich dankbar in den winzigen Schatten. Dort ging er in die Hocke und schloss einen Moment lang die Augen. Dann studierte er die Karte, die ihm der Krankenhausdirektor von Matsue gezeichnet hatte, welcher seit Jahren jeden Sommer in Shimane für die fuchskranken Frauen zuständig war.
Das heutige Tagwerk befand sich zwischen Taotsu und Saiwa. Dort hatte der Direktor gleich dreimal sein rotes Fuchszeichen auf die Karte gepinselt, da der Fuchs dort anscheinend gleich dreimal nistete. Es war nicht mehr weit zu dem namenlosen Ort zwischen Taotsu und Saiwa. Shimamura holte tief Luft, kniff das Gesäß zusammen, um seinen Kreislauf zu stabilisieren, und machte sich wieder auf den Weg.
Halbnackte Kinder, die überall aus dem Unterholz hervorkamen, gaben ihnen das Geleit. Viele trugen kleine Geschwister auf dem Rücken, die dort schliefen, sabberten oder an ihren Fäusten kauten. Wahrscheinlich litten sie alle an Mangelkrankheiten. Blickte Shimamura in ihre Richtung, stoben sie wie ein Fischschwarm auseinander. Vor dem Studenten hatten sie keinen Respekt, sie schlichen sich an und zupften an ihm und bald schienen die ersten an ihm festzuwachsen wie Napfmuscheln an einem Boot. Der Student schnitt ihnen Grimassen. Er sah aus wie ihr großer Bruder, wenn er dieses fadenscheinige Kittelchen trug. Auch hatte er sich einen alten Lappen als Sonnenschutz um den Kopf geknotet, der jeder Hygiene spottete. Bei all seiner Lästigkeit war der Student aber doch ein guter Junge. Shimamura nahm sich vor, ihn ein wenig mehr zu beachten und ihm vielleicht auch dieses oder jenes über die Medizin beizubringen, wenn er ihn schon in seiner Obhut hatte.
Sie erreichten Taotsu, durchquerten es in fünf Minuten und standen wieder in der weglosen, nutzlosen Hitze. Zu den Kindern hatten sich die Exorzisten gesellt; es war täglich dasselbe Spiel. Auch die Exorzisten mieden Shimamura und klammerten stattdessen am Studenten. Es waren schon derer vier, ein hinkender Mönch, ein Weiblein mit Zauberfahnen und zwei Gefäße.
»Zwei Gefäße haben sich soeben zu uns gesellt, Herr Doktor!«, vermeldete der Student mit kaum verhohlener Begeisterung.
Der Student wusste genau, wie sehr es Shimamura vor den sogenannten Gefäßen ekelte. Shimamura ekelte sich nicht leicht. Er war schließlich Arzt. Gerade gestern hatte er lange besinnlich an den Hautläsionen eines Leprakranken gekratzt, nur um sich über die ewigen Fuchsweiber hinwegzutrösten. Doch die Gefäße ekelten ihn schrecklich. Er drehte sich um und schrie. Er schrie die Kinder an und die Exorzisten. Er drohte mit Schlägen, mit der Polizei, mit Spritzen; es kam