Ich bin, was ich bin. Claudio Honsal

Ich bin, was ich bin - Claudio Honsal


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mit Saitensprung vor bis zu 200 Leuten Konzerte zu spielen. Als Rockstars fühlten wir uns dabei nicht, zu wenig schillernd und progressiv waren die Auftritte unserer Unterstufen-Musikband, die anfangs unentgeltlich, dann mit lächerlichen Aufwandsentschädigungen und später durch überschaubare Einnahmen von Eintrittsgeldern belohnt wurde.

      Immerhin hatte die Band ein eigenes Sparbuch, das Frank angeblich heute noch in einer Schublade aufbewahrt: „Das Kennwort lautete ‚Carlo Rabozzo‘, und die erste Einzahlung betrug 79 Mark 68 Pfennig, datiert vom 9. Dezember 1982“, erzählt er immer stolz über die allerersten Einnahmen bei einem Konzert im evangelischen Pfarrheim von Hamm.

      Zu unseren Auftrittsorten, die nie weit von unseren Probenräumlichkeiten entfernt waren, fuhren wir mit dem Fahrrad, die Gitarre und das Cello hatten wir umgeschnallt. Unser Publikum war bunt durchmischt und reichte von älteren Personen bis zur Landjugend. Im Repertoire hatten wir rund 20 Songs, geschrieben von Frank und mir – nicht schlecht für Newcomer, die das gesamte erspielte Geld natürlich sofort in Musikinstrumente und Tonanlagen investierten. Bei unseren Auftritten trugen wir alle die gleichen gestreiften Zechenhemden, eine Arbeitsbekleidung aus den Bergwerken unserer Umgebung. Keine Ahnung, warum, aber wir fanden es offensichtlich hipp. In der Freizeit rannten wir alle in Turnschuhen und selbstgestrickten Norwegerpullovern herum, es war die späte Hippie-Ära. Die Haare der Jungs waren halblang – so lange, wie es die Eltern eben erlaubten. Wir wohnten ja alle noch zu Hause. Dass man von Hamm in die weite Welt hinausgehen könnte, war noch kein Thema, und die Atomkraftwerke im Umkreis und deren Gefährlichkeit kannten wir nur vom Hörensagen. Aber wir protestierten gegen Letzere mit Aufklebern wie „Atomkraft – nein, danke!“. Man war eben alternativ unterwegs.

      Dazu fällt mir ein weiterer Protestsong von Frank und mir ein: „Ich bin ein Spießer und ich denk nur an mich!“ Es hatte schon einen Sinn, gegen gewisse Umstände öffentlich zu protestieren. Gebracht hat es natürlich wenig, aber wir empfanden uns zumindest als politisch interessiert.

      Eigenartigerweise haben wir in unserer Familie nie über Politik gesprochen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie meine Eltern politisch einzuordnen waren. Das war kein Thema. Ich selbst war in meiner pubertären Sturm- und Drangphase dem grünen, revolutionären Gedankengut gegenüber aufgeschlossen, dem Zeitgeist der selbstgestrickten Schals und Anti-Atomkraft-Aufkleber.

      Lautstark vertraten wir diese Einstellung via Saitensprung in schätzungsweise 20 Konzerten, bis schließlich 1984 das Abitur zum gravierenden Schnitt in der Bandgeschichte wurde. Wir trafen uns nur noch selten, jeder ging seinen eigenen Weg. Ich musste den Zivildienst antreten, ebenso wie Frank. Wir verloren uns aus den Augen.

      Das spürbar nahende Ende ging Hand in Hand mit meinem gesteigerten Interesse für das Genre „Musical“. Ich hatte mich losgelöst von unserem Stil, unsere Protestsongs waren nichts mehr für mich. Wir hatten uns ideologisch voneinander entfernt und unterschiedliche Ansichten in Sachen Musik entwickelt. Frank führte die Band noch einige Zeit weiter, ich dachte bereits in Richtung professioneller Gesang. Ich wollte meine Begeisterung für die Musik zum Beruf machen, nachdem ich mit Backstage Blut geleckt hatte.

      Frank konnte meinen Wunsch nicht ganz verstehen, er meinte einmal: „Ich konnte das nicht nachvollziehen, dass sich Uwe plötzlich so sehr für Musical begeisterte und in diese völlig andere Richtung gegangen ist. Von mir aus hätte unsere Band noch lange weiterlaufen können. Ich zweifelte an dieser Karriere, da das Musical-Genre in Deutschland etwas völlig Neues, Unbekanntes war.“

      Unsere Wege, die sich 1985 getrennt hatten, sollten sich erst Jahre später auf beruflicher Ebene wieder kreuzen. Frank arbeitete mittlerweile als Journalist, und ich war ein aufstrebender Musicaldarsteller. Es war eine Begegnung zweier völlig verschiedener Welten. Frank lebte und arbeitete immer noch in Hamm, während ich hinausgegangen war in die Welt und in jenem Genre reüssiert hatte, das er so angezweifelt hatte.

      Zu Weihnachten, wenn ich mein beinahe alljährliches Konzert in meiner Heimatstadt Hamm geben werde, wird man sich wieder sehen und vielleicht über alte Zeiten plaudern, denn etwas verbindet uns immer noch: Frank ist heute mit Sigrun, einer meiner ersten Freundinnen, verheiratet, und ich freue mich immer wieder, die beiden zu sehen.

      Berlin wurde zu meinem Lebensmittelpunkt – in jeder Hinsicht

      Ich leistete gerade Zivildienst und stand am Abend in Godspell in Hamm als Jesus auf der Bühne, als Annette Brückner, die von meinen Talenten begeistert und überzeugt war, mit einer ziemlichen Überraschung auf mich zukam. Die Ballettschulleiterin und Choreografin, der ich meinen Auftritt in Godspell und zuvor in Dreams on Broadway verdankte und die mir eigentlich den Zugang zum Musical verschafft hat, hatte ohne mein Wissen die Weichen für meine Zukunft gestellt. Als meine Mentorin und in meinem Namen hatte sie eine Bewerbung zum Vorstellungsgespräch an der HdK, der Hochschule der Künste in Berlin, abgeschickt. Sie verfügte stets über gute Kontakte nach Berlin und war überzeugt, dass ich genau der Richtige für die Musicalklasse der Hochschule sei. Ich hatte damals das Ende meines Zivildienstes vor Augen und sah ohnehin keinen Grund mehr, in Hamm zu bleiben, noch länger Mitglied des für mich zu klein gewordenen Mikrokosmos in der westfälischen Provinzstadt zu sein.

      Die Weichen waren gestellt. Der wohlwollende Antwortbrief und die Einladung zum Vorstellungsgespräch folgten. Eine Hürde hatte ich als angehender Student allerdings noch zu meistern: die Aufnahmeprüfung an der renommierten Hochschule der Künste, die 2001 als UdK in den Status einer Universität erhoben wurde.

      Zum ersten Mal kam ich nach Berlin, die Aufregung über die große Stadt war gepaart mit der Angst vor dem Hearing an der Hochschule. Konnte ich meinen Traum realisieren? Da stand ich in der Hardenbergstraße, unweit des Bahnhofs Zoo, eben noch mit Godspell auf der kleinen Bühne, im Koffer die Noten zu „Aquarius“, die ich gar nicht lesen konnte, denn all die Jahre hatte ich mir als Autodidakt lediglich die Gitarrengriffe beigebracht. Auch einen Tanz hatte ich einstudiert, man konnte ja nie wissen.

      Die Konkurrenz der Bewerber war groß, aus ganz Deutschland waren sie gekommen, in die Noch-nicht-Hauptstadt, aber wichtigste Kunstmetropole der Bundesrepublik. 600 waren es an der Zahl. Sechs von ihnen haben die Prüfung bestanden – einer davon war ich.

      Mit dem ernsten und aggressiven Godspell-Song „Alas for You“, dessen Melodie lediglich von einem Kassettenrekorder zugespielt wurde, konnte ich als bühnenerprobter Jesus die strengen Professoren überzeugen. Ich wurde genommen, weil ich ein Mann war und sich hauptsächlich Frauen beworben hatten. Weil ich eine außergewöhnliche Stimme hatte und offenbar auch schauspielerisch imponieren konnte. So hat es zumindest einer meiner Professoren später einmal formuliert.

      Ich hatte einen Platz in dem erst ein halbes Jahr zuvor installierten und fast ausschließlich weiblich frequentierten Probelehrgang zur Ausbildung für Musicaldarsteller. Trotz meiner unterdrückten Unsicherheit fühlte ich mich wie im siebenten Himmel. Ich war jemand, ich hatte es geschafft.

      Geschafft hatte ich es sozusagen auch bei meinem nächsten Heimatbesuch in Hamm, nämlich in den Westfälischen Anzeiger, das wichtigste Regionalmedium in unserem Landkreis. In dem Artikel über den Sohn der Stadt, der es bis nach Berlin an die Kunst-Uni gebracht hatte, war ich auf einem Foto zu sehen, das mich im Freudensprung auf dem Dach eines Hauses hoch über Hamm zeigt. Ein treffendes Motiv, denn genau so fühlte ich mich damals. Nicht nur meine Familie war mächtig stolz auf mich, sondern ganz Hamm hat sich merkbar mit mir gefreut.

      Nun war ich mittendrin. Unter den echten Künstlern und Sängern, in Berlin, und über 500 Kilometer weg von meiner Heimatstadt. Zum allerersten Mal lebte ich in einer Großstadt, und noch dazu als ordentlicher Student. Ich konnte es kaum fassen, eine fast unwirkliche Stimmung machte sich in mir breit. Die erste Nacht verbrachte ich voll Euphorie in der Wohnung einer Freundin, die Monate zuvor den Schritt aus Hamm nach Berlin gewagt hatte. Martina war Krankenschwester, wollte später Schauspielerin werden und arbeitete nebenbei als Redakteurin bei der taz. Sporadisch sind wir immer noch in Verbindung. Mit ihr habe ich mir bald eine Wohnung geteilt. Sie ging zur Arbeit, ich in meine Vorlesungen und praktischen Übungsstunden. Sie war es, die unseren Kühlschrank immer aufgefüllt hat und mir das


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