Neues von Gestern. Georg Markus
es tatsächlich zu dem fiktiven Treffen gekommen, das im letzten Kapitel beschrieben wird: Adolf Hitler begibt sich in Sigmund Freuds Ordination in die Wiener Berggasse.
Dieses Buch will aufzeigen, dass es in der Geschichte nicht um trockene Daten aus fernen Zeiten geht, sondern um die Lebenswege vieler einzelner Menschen. Und damit um unsere eigene Vergangenheit, um das Geschehen, das ins Heute führt.
Gestern ist heute.
GEORG MARKUS
Wien, im Juli 2004
DAS SÜSSE MÄDEL …
… und was aus ihm wurde
Wir schreiben das Jahr 1887. Die Christlichsoziale Partei wird gegründet, Katharina Schratt erhält aus den Händen des Kaisers das Dekret für den Titel »Hofschauspielerin«, und auf der Ringstraße wird das Maria-Theresia-Denkmal fertig gestellt. In den ersten Septembertagen dieses Jahres spaziert Arthur Schnitzler an eben diesem Denkmal vorbei, über die noch in Bau befindliche Prachtstraße im Zentrum der Haupt- und Residenzstadt. Da kommt ihm eine bildhübsche junge Frau entgegen, deren erotische Ausstrahlung ihn fesselt. Er spricht sie an – und hat damit, ohne es vorhersehen zu können, das »süße Wiener Mädel« geschaffen.
Die junge Dame heißt Jeanette Heeger und sollte zum Prototyp eines völlig neuen Frauentyps werden, der eine ganze Epoche prägen wird.
Jeanette jedenfalls geht sofort freudig auf den Flirtversuch des 25-jährigen Dichters ein, sie zeigt jene spontane, natürliche Herzlichkeit, die ihn dazu verleitet, sie näher und intim kennen lernen zu wollen.
Jeanette wohnt mit ihren vier Geschwistern in äußerst bescheidenen Verhältnissen in der Vorstadt, von der aus sie jeden Tag ins Zentrum kommt, um hier Stickereiarbeiten im Auftrag eleganter Modegeschäfte auszuführen. Zwischen ihr und Schnitzler entwickelt sich nun eine leidenschaftliche Affäre, die zwei Jahre anhalten wird. Natürlich bleibt sie, wie es sich für ein süßes Mädel gehört, nicht die einzige Geliebte des Dichters. In einer Tagebucheintragung teilt Schnitzler jede seiner gerade aktuellen Freundinnen als »Symbol für was anderes« ein: Olga (Waissnix) steht in seinem Liebesleben für die »Grande Passion«, Fifi ist »die Behaglichkeit«, Jenny und Mimi »die Leichtlebigkeit«, Fännchen »die Jugendliebe – also gewiss nicht die Liebe«, »Dilly« (Adele Sandrock) ist für ihn »die Sensation, eine Berühmte zu besitzen« und Mizzi »die wahre Liebe«.
Für Jeanette Heeger bleibt nur ein Wort: »Sinnlichkeit«.
Fast jedes erotische Abenteuer, das Schnitzler durchlebt, wird in die Literaturgeschichte eingehen, so auch die Affäre mit Jeanette. So wie Adele Sandrock für die Männer verzehrende Schauspielerin im Reigen Pate stand und die Wiener Nobeldirne Mizzi Veith für seine Komtesse Mizzi, so wurde die Heeger zum Vorbild für das »süße Mädel«, wobei er den Ausdruck zum ersten Mal in seinem Einakter-Zyklus Anatol verwendet.
»Nach einer Nacht mit Jeanette«, erinnert sich Schnitzler später, »war es, dass ich dieses Schmeichelwort vom süßen Mädel erstmals in mein Tagebuch schrieb, ohne zu ahnen, dass es bestimmt war, einmal gewissermaßen literarisch zu werden.«
Geburtsort und -stunde des wienerischen Pendants zur Pariser Grisette waren kein Zufall. Die Vorstädte der Haupt- und Residenzstadt verschmolzen in jenen Tagen der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit den inneren Bezirken, nachdem der Kaiser den Linienwall hatte niederreißen lassen. Der Wegfall der Stadtmauer, der Bau der Ringstraße und das gleichzeitige Einsetzen des industriellen Zeitalters gaben den unterschiedlichen Klassen die Möglichkeit, einander nahe zu kommen. Sicher, Affären zwischen Grafen und Stubenmädeln hat es auch im Biedermeier schon gegeben, jetzt aber fand das romantische Treiben über die Grenzen der ungleich Geborenen hinaus auf breitester Basis statt.
Die süßen Mädeln kommen also neuerdings, ohne die unüberwindlich scheinende Stadtmauer passieren zu müssen, in die City und sehen dort zum ersten Mal seit Menschengedenken die Möglichkeit, am Wohlstand teilhaben zu können.
Umgekehrt erkennen die jungen Leutnants, Assistenzärzte und Rechtsanwaltsanwärter – teils adliger, teils bürgerlicher Herkunft –, dass diese entzückenden Wesen in ihrer ganzen Anmut und Freizügigkeit viel eher ihren erotischen Vorstellungen entsprechen als die verzopften Damen aus »gutem Hause«, deren sexuelle Aktivitäten tunlichst erst nach Eheschließung erfolgen sollen.
Die meist ziemlich laszive Bühnendarstellung des süßen Mädels tat dann ihr Übriges, um den Reiz zu fördern, ein solches Wesen »besitzen« zu dürfen. Zwei fremde Kulturen, Groß- und Kleinbürgertum, stießen aufeinander, das Neue, Verbotene entpuppte sich für beide Seiten als anziehend, machte das süße Mädel zum Mythos.
Die ersten Begegnungen zwischen den Vorstadtschönen und den Galans aus dem Zentrum fanden da wie dort statt, es gab keinen Heimvorteil. Innerhalb oder außerhalb der Ringstraße, vor einem eleganten Geschäft, in der Hauptallee, beim Heurigen, in der Freudenau. Es ist nicht schwer, miteinander ins Gespräch zu kommen, »Hallo, Fräulein, was machst du in der Stadt? Wie heißt du? Ah, Gusti. Und, hast schon was vor heut’ Abend?«
Die reflexartige Abwehr, »Aber Herr Leutnant, warum denn gleich so stürmisch?«, entpuppt sich meist – wie der erfolgsgewohnte Dandy weiß – als nicht wirklich ernst gemeint. Das ist ja das Angenehme bei den süßen Mädeln: Sie müssen auf keine Konventionen achten, sich nicht zieren. Ganz im Gegenteil, sie genießen es, von jungen, attraktiven und angeblich feinen Herren umworben zu sein und mit deren Hilfe dem Geruch ihrer armseligen Kindheit zu entfliehen.
Von der »gnädigen Frau« nach der Beschaffenheit seiner neuesten Eroberung befragt, definiert Schnitzlers Anatol das süße Mädel so: »Es ist nicht faszinierend schön, es ist nicht besonders elegant – und es ist durchaus nicht geistreich. Aber es hat die weiche Anmut eines Frühlingsabends und die Grazie einer verzauberten Prinzessin und den Geist eines Mädchens, das zu lieben weiß.«
Ja, ein Mädchen, das zu lieben weiß, das ist das Um und Auf – wobei sich der Ort des Tête-à-têtes als zweitrangig erweist. Bei Schnitzler erfahren wir, dass die süßen Mädeln ihre Verehrer nicht nur in deren elterlichen Stadtpalais oder im Chambre separée trafen, sondern dass diese auch zu ihnen in die Vorstadt kamen. Anatol beschreibt die Behausung einer in ihren eigenen vier Wänden beglückten jungen Dame: »Ein kleines dämmriges Zimmer – so klein – mit gemalten Wänden – und noch dazu etwas zu licht – ein paar alte schlechte Kupferstiche mit verblichenen Aufschriften hängen da, und dort – eine Hängelampe mit einem Schirm. Vom Fenster aus, wenn es Abend wird, die Aussicht auf die im Dunkeln versinkenden Dächer und Rauchfänge! Und – wenn der Frühling kommt, dann wird der Garten gegenüber blühen und duften.«
So also liest sich die poetische Verfälschung des Wortes Bassenawohnung.
Derlei Kleinigkeiten stellten aber kein Problem dar für einen schnauzbärtigen Verführer, denn das vermeintliche Glück sollte ja ohnehin nur von kurzer Dauer sein. Bald, allzu bald, wurde die kaum noch erblühte Knospe wieder »abgelegt«, es gab ja so viele, die süß und aus Wien und vor allem Mädeln waren.
Vom Ende eines solchen Abenteuers erfährt man zwar bei Schnitzler, selten jedoch aus dem wahren Leben. Einmal fallen gelassen, geschwängert vielleicht, war so eine Frau kein Mädel mehr und schon gar kein süßes, sondern nur noch aus Wien. Besser gesagt, jetzt doch wieder aus der Vorstadt, mit der man ja sowieso nie etwas zu tun haben wollte.
Ein paar Jahre nach der Trennung von Jeanette wird Schnitzler hinterbracht, dass sie in die Demimonde abgesunken, also eine bessere Prostituierte geworden sei. Er sieht sie zufällig auf der Straße und hält die Begegnung im Tagebuch fest: »Geh an ihr, die vor mir ist, vorbei. Sie rief mir nach: ›Arthur! – Du! – Du!‹ Ich ging weiter, ohne mich umzuwenden.«
Ach, wären die Wiener Mädeln doch nicht ganz so süß gewesen, ihr Leben wäre vielleicht glücklicher verlaufen.