Neues von Gestern. Georg Markus
»Oui, Monsieur«, und sein Sohn setzte sich. Dann las Leeb in seiner Zeitung weiter. Hanns beobachtete seinen Vater, nahm unterdessen eine Tasse Kaffee zu sich und verabschiedete sich nach einer Viertelstunde. Dann ging’s zurück nach Wien.
Wieder zu Fuß!
Abgesehen von der Frage nach der freien Sitzgelegenheit hat Hanns Hörbiger sein Leben lang kein Wort mit seinem Vater gewechselt, er hat ihn auch nie wieder gesehen. Und Herr Leeb hat nie erfahren, dass er einmal mit seinem Sohn an einem Tisch gesessen ist.
Nach Wien zurückgekehrt, inskribierte der junge Mann an der Technischen Hochschule. Als aber ein wohlhabender Onkel, der ihm das Studium finanzieren wollte, über Nacht am Spieltisch sein Geld verlor und Hörbiger ihn im Armenhaus Zum Blauen Herrgott wieder fand, musste der Maturant frühzeitig ins Berufsleben treten.
Und er nahm einen außergewöhnlichen Weg. Vorerst technischer Zeichner bei einem Dampfmaschinenhersteller, wurde bald seine besondere Begabung erkannt, so dass man ihn als Konstrukteur in die Erste Brünner Maschinenfabrik holte. Er setzte völlig neue Maßstäbe, die 1894 zur bahnbrechenden Erfindung des ersten reibungsfrei geführten Plattenventils für Pumpen und Kompressoren führte. Hanns Hörbiger war aber auch maßgeblich an der Konstruktion der Budapester U-Bahn beteiligt, wobei der Aufenthalt der Familie während der Planungsarbeiten auch der Grund dafür war, dass seine Söhne Paul und Attila in Budapest zur Welt kamen.
Die weltweiten Patentrechte des Hörbiger-Ventils machten Hanns Hörbiger wohlhabend, bekannt wurde er freilich durch die von ihm entwickelte Welteislehre.
Hanns hatte schon als dreizehnjähriger Realschüler sein Bett in den Garten geschoben, um dort mit großer Begeisterung »Himmelsbeobachtungen« anzustellen. Später gelangte er durch Forschungen zu der Auffassung, dass eine riesige Eisschicht der Ursprung unserer Erde gewesen sei. Eine Kollision von Heiß und Kalt hätte demnach eine Explosion hervorgerufen, die die Bildung der Sonne und anderer Planeten zur Folge hatte. Alles irdische Leben, schloss Hanns Hörbiger in seiner Welteislehre, stammte aus dem All.
Ich selbst verdanke der Welteislehre die Veröffentlichung meines ersten Buches, nämlich der 1979 erschienenen Memoiren seines Sohnes Paul. Die Vorgeschichte war folgende: Der deutsche Filmregisseur Hans Jürgen Syberberg hatte Hanns Hörbiger in einem Club 2 des ORF zum Thema »Hitlers Wurzeln« ins Spiel gebracht. Paul Hörbiger, damals 84 Jahre alt, regte sich über die Unterstellung furchtbar auf und bat mich am Tag danach, die Integrität seines Vaters in einem Zeitungsartikel klarzustellen.
Ich musste nicht lange recherchieren, um Herrn Syberbergs These entkräften zu können. War doch Hanns Hörbiger am 12. Oktober 1931 – also eineinhalb Jahre vor Hitlers Machtergreifung – verstorben. Dass es auch bis dahin keinerlei Berührungspunkte mit den gerade aufkommenden Nazis gegeben hatte, war einem Urteil des Landesgerichts Wien aus dem Jahre 1967 zu entnehmen, in dem ein Schweizer Autor die Behauptung zurücknehmen musste, »Herr Ing. Hanns Hörbiger sei mit nationalsozialistischem Gedankengut in Verbindung zu bringen«.
Richtig ist allerdings, dass sich die Nazis der Hörbigerschen Lehren bedienten und der »Reichsführer-SS«, Heinrich Himmler, dessen Erkenntnisse verfälschte und für seine rassistische Theorie vom »Ahnenerbe« schamlos missbrauchte.
Nach Erscheinen meines Artikels über Hanns Hörbiger hatte sein Sohn Paul Vertrauen zu mir gefasst, weshalb er mich einlud, seine Lebenserinnerungen zu schreiben.
Hanns Hörbigers Theorie, schon zu dessen Lebzeiten ebenso populär wie umstritten, wurde freilich nicht nur von den Nationalsozialisten propagiert. So brachte Egon Friedell die Welteislehre in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit in einen »unterirdischen Einklang mit der Relativitätstheorie«, und nach dem Krieg sollte sich Wernher von Braun – bereits in den USA – als Hörbigers prominentester Fürsprecher erweisen. Immerhin hatte der Vater der bemannten Raumfahrt mit den Kameras der Orbiter-Sonden »Flussläufe festgestellt, die darauf hinzuweisen scheinen, dass sich in einer Tiefe von 10 bis 20 Metern unter der Mondoberfläche ewiges Eis befinde«. Aufgrund dieser Annahme, die Hörbigers Thesen bestätigte, wurde dem Wiener Forscher zu Ehren ein Mondkrater mit dem Namen »Hörbiger« versehen.
Spätere Mondexpeditionen und Satellitenbeobachtungen haben Wernher von Brauns ursprüngliche Vermutung widerlegt, so dass die Welteislehre heute von der Wissenschaft keinerlei Anerkennung findet. Was nichts daran ändert, dass der Mondkrater nach wie vor Hörbiger heißt.
Unbestritten bleibt die andere »Hinterlassenschaft« des Forschers, nämlich dessen vier Söhne. Während Paul und Attila Film- und Theatergeschichte schrieben, gründeten die beiden älteren Söhne Johann und Alfred die Hörbiger-Ventilwerke in Wien – heute ein international erfolgreicher Konzern. Alfreds mysteriöser Tod stürzte freilich die gesamte Familie in einen jahrzehntelangen Streit.
Es war im Mai 1945, als Alfred Hörbigers Leichnam in der Nähe von Innsbruck aufgefunden wurde. Bei der Obduktion stellte man eine Vergiftung fest. Würde heutzutage in einem solchen Fall selbstverständlich die Kriminalpolizei ermitteln, fand sich in den ersten Friedenstagen niemand, der die genaueren Todesumstände untersucht hätte. Zu viel Elend war nach Krieg und Nazidiktatur aufzuarbeiten, um jeden einzelnen Fall klären zu können.
Während Paul Hörbiger überzeugt war, dass Alfred ermordet wurde, konnte sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Attila diesem Verdacht nichts abgewinnen. Paul ließ nicht locker und beantragte eine zweite Obduktion, deren Ergebnis den Mordverdacht weder bestätigen noch widerlegen konnte.
Dennoch erstattete Paul Hörbiger Anzeige »gegen Unbekannt«. Der Volksschauspieler verdächtigte ein Mitglied der Familie (das, da es nie zu einem Schuldspruch kam, namentlich nicht genannt werden kann – es war aber kein »prominenter Hörbiger«). Ein Prozess folgte dem anderen und verschlang das Vermögen, das Paul Hörbiger sich in Jahrzehnten als Filmstar erarbeitet hatte.
Nach mehr als zehnjähriger Prozessdauer wurde das Verfahren mangels an Beweisen eingestellt. Die genauen Umstände des mysteriösen Todes von Alfred Hörbiger werden wohl für alle Zeiten ein Rätsel bleiben.
Paul und Attila Hörbiger, die bis zu Alfreds Tod in brüderlicher Harmonie verbunden waren, verkehrten während des Streits – über den die Presse in großer Aufmachung berichtete – nur über ihre Anwälte. Wie überhaupt die ganze Familie bis weit über den Abschluss des Verfahrens hinaus zerstritten blieb. Erst im hohen Alter kamen sich die beiden Brüder, hervorgerufen durch ihre gemeinsame Arbeit am Burgtheater, wieder näher.
Hanns Hörbiger blieb die Tragödie seines Sohnes Alfred erspart. Aber auch von jener, eher kuriosen Geschichte, die sich im Zusammenhang mit dem nach ihm benannten Mondkrater ereignete, hat er nie erfahren.
Hier sollte sich ein in Wien oft erzählter Witz bewahrheiten. Sagt eine Kinobesucherin zum Filmoperateur: »Am liebsten hab ich die Filme mit’n Hörbinger.«
Der Filmoperateur korrigiert die Besucherin: »Hörbiger heißt er.«
Darauf die Besucherin: »Das is der Bruder!«
Den Hintergrund für diesen Witz liefert die Tatsache, dass viele Österreicher die beiden Publikumslieblinge und deren nicht minder berühmten Töchter und Enkel tatsächlich aus unerfindlichen Gründen stets Hörbinger nennen. Die Erweiterung um jenes »n«, das der hierorts üblichen Sprachmelodie entgegenzukommen scheint, war nie aus der Welt zu schaffen – man sagt Hörbinger, wie man auch Heester (statt Heesters) und Lingens (statt Lingen) sagt. Unerforscht sind die Eigenheiten des österreichischen Idioms.
Zur Jahrtausendwende, lange nachdem der Hörbiger-Mondkrater seinen Namen erhalten hatte, brachte die NASA eine neue Mondkarte heraus, auf der jeder einzelne Krater fein säuberlich eingezeichnet ist. Von Archimedes über Darwin bis zum Krater Galilei. Doch, als wär’s ein österreichischer Witz, steht auf der Karte nicht Hörbiger, sondern Hörbinger.
So lässt sich der alte Scherz durch einen Druckfehler auf der Mondkarte weit über den Tod des Forschers und den seiner Söhne hinaus nicht aus der Welt schaffen. Oder, wie es in diesem Fall wohl heißen müsste: vom Mond schaffen.