Mitgeschrieben. Michael Rutschky

Mitgeschrieben - Michael Rutschky


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      Michael Rutschky

      Mitgeschrieben

      Die Sensationen

      des Gewöhnlichen

      BERENBERG

      EINS

      März

      Abendroth, der traurige Cheflayouter, feiert seinen 53. Geburtstag. Es gibt Matjesfilets mit Pellkartoffeln und einem Kräuterquark, der rasch verzehrt ist. Dazu Bier. Man steht herum auf einem Gang im Hauptgebäude, man lächelt einander stumm an, oder man wechselt Worte, die nicht weiterführen.

      Endlich kommt der Verleger und versammelt in konzentrischen Kreisen Zuhörer um sich. Er erzählt nämlich, wie er letzte Nacht so betrunken war, dass er nicht mehr wusste, wo er sich befand – mit Abendroths Freundin in ihrer Wohnung?

      Mehrere Anrufe von Rosi Cieslak, die bei der Reportage von Janet Flanner über den Kunstraub der Nazis Korrektur liest; mehrere kleine Kontroversen. Schließlich: »Das kann man natürlich nicht sagen, ›diese Gebäude dominieren den Königsplatz‹.« – »Warum kann man das nicht sagen?« – »Das geht einfach nicht.«

      Rosi Cieslak fühlt sich deklassiert als Korrektorin (sie sei von Beruf Historikerin, betonte sie während einer anderen Kontroverse), und sie äußert sich gern apodiktisch.

      R. fährt in Richtung Marmorhaus, Leopoldstraße. Er will Kinokarten besorgen. Aber es findet sich kein Parkplatz – eigentlich verlangt es R. auch nicht wirklich nach »Flash Gordon« – dafür legt er sich den Gedanken zurecht:

      Es sei typisch für das gegenwärtige Leben in den Städten, dass man den angemessenen Vergnügungen nicht souverän nachgehen könne; das Parkplatzproblem deute darauf, ebenso die Notwendigkeit, Kinokarten im Voraus persönlich zu kaufen; denn telefonische Vorbestellungen nehme ein Kino wie das Marmorhaus nicht an. –

      Sie gingen dann zu Fuß, kauften die Karten an der Kasse und verbrachten noch eine Stunde im Leopold an der Leopoldstraße. Ein Paar am Nebentisch lud zur genaueren Beobachtung ein:

      Beide jung, mager und exquisit hässlich – das Prinzip ihrer Selbstinszenierung. So fährt sich der junge Mann zuweilen mit der Hand durch die kurzgeschnittenen Haare am Hinterkopf und bringt sie wieder durcheinander. Außerdem seltsame Verrenkungen – so kann man eine Zeitlang denken, dem Mädchen fehle der rechte Arm, weil sie ihn hartnäckig unter dem Tisch verbirgt.

      Immer wieder verrenken sie sich gegeneinander, bringen dem anderen die jeweilige Hässlichkeit nahe und küssen sich – der junge Mann berührt mit den Lippen die graue Haut auf der Wange des Mädchens.

      Ebenso wie im Verliebtheitszustand mochten sie sich in einer extremen Krise ihres Verhältnisses befinden – einmal legt das Mädchen den Kopf auf den Tisch, auf die verschränkten Arme, was den jungen Mann zu einer besonders geschraubten Verrenkung provoziert – ebenso in einer Liebeskrise wie im Zustand ausgezeichneten Wohlbefindens.

      An der Tankstelle, gegen elf Uhr, wirft ein Mittvierziger, der getankt hat und zum Bezahlen geht, R. einen Blick zu, der R. bekannt vorkommt, weil auch er ihn an einem Sonntagvormittag an der Tankstelle auszusenden pflegt.

      Es ist ein stolzer Blick, wie der von Seefahrern oder weitreisenden Kaufleuten, die sich im Hafen oder in der Karawanserei begegnen. Vielleicht werden sie einander nie wiedersehen, denn unendliche Räume voller Lebensgefahren liegen vor ihnen.

      Dabei geht es an einem solchen Sonntagmorgen bloß um eine Fahrt nach Landshut oder an den Chiemsee.

      Christel Doppler, die Redaktionssekretärin, müsste jetzt ein weiteres Manuskript abtippen; aber sie sitzt über ihrem Lehrbuch des Italienischen. Sicher, sie könnte sich rechtfertigen: Italienisch zu sprechen, das trage bei zu ihrer Qualifikation als Redaktionssekretärin.

      Aber das ist nicht der Punkt. Es geht darum, während des Arbeitstages etwas für sich selber zu tun und für niemanden sonst. Die Selbstbehauptung des Angestellten.

      R. ruft die Herausgeberin an, wegen des Honorars, das Hans Platschek für seine Reportage über die holländische Kunstförderung angeboten werden solle. »Warum flüstern Sie eigentlich immer so?« Das stimmt, R. pflegt seinen Namen zu flüstern, wenn er die Herausgeberin anruft.

      Wenig später ruft sie zurück. Ob R. ihr zufällig helfen könne, wie nämlich der Autor von »A Taste of Honey« heiße? – »Shelagh Delaney.« – »Ich wusste doch, dass Sie so etwas wissen!«

      So etwas passierte heute zum ersten Mal.

      Die Herausgeberin misst einige Zentimeter mehr als R. Freilich sind sie gleichaltrig – wenn die Herausgeberin nicht sogar ein paar Jahre jünger ist. Doch erscheint sie ihm zuweilen von einer schweren Monumentalität – die sich aus ihrer Rolle (die Herausgeberin) herleitet.

      Während sie sich, wie sie mal erzählte, immer noch danach sehnt, ein kleines zartes Mädchen zu sein.

      Enzensbergers Essay wider die Konsequenz beginnt mit einigen wörtlichen Reden. Sie verschwanden aber im Satz; die Apostrophe am Satzanfang, sagt Dirk Bickel, hätten die Herausgeberin gestört, Augenpulver.

      Doch muss man die wörtliche Rede markieren, sonst verwirrt sich der Text. Im Vollgefühl dieser Wahrheit ruft R. die Herausgeberin an – und ist plötzlich heiser. Worauf sie sich räuspert.

      Das Lokal in Bad Tölz heißt Hubertus-Stuben. An den Nebentisch setzen sich zwei ältere Damen, beide ganz in Rot; die eine führt einen Schäferhund mit sich, Probleme der Friedfertigkeit zwischen ihm und N.

      Die eine rote Dame bestellt ein Cordon bleu, die andere russische Eier. Sie unterhalten sich. Kathrin hört sie über Königin Silvia von Schweden sprechen; R. hört die andere sinnieren: »Ja, und dann bekam er ja Berufsverbot …«

      Für bürgerliche Damen unterdessen ein ganz normales Wort!, erörtern sie auf der Heimfahrt.

      Morgens steht am Auto die rechte Vordertür offen. Jemand hat den Baedeker zerrissen, den Innenspiegel abgebrochen, ein paar Hebel am Armaturenbrett herausgerissen.

      Kathrin entwickelt die Idee: Ein Jugendlicher, tagsüber artiger Gymnasiast, wollte sich beweisen, dass er nachts nichtsdestotrotz zum Punk taugt, der zu vandalieren vermag – so wie unsereins als Student mal Bücher oder Lebensmittel geklaut haben musste.

      »Ich bin krank, ich habe Fieber«, erklärt R. – »Ich bin auch krank«, repliziert Karl Markus Michel, »aber Fieber bekomme ich leider nie.«

      Dann betritt Frau K. den Raum und bringt Michel die unzusammenhängende, teilweise unverständliche Waldemar-Müller-Kolumne. »Mach ihn halt heute Abend fertig«, rät sie Michel heiter, »und telefoniere mit Gaston. Magnus muss ihn ja auch immer umschreiben.«

      Der bayerische Ministerpräsident wiederholt bei einer Vorstandssitzung seiner Partei und bei einer anschließenden Pressekonferenz in München seine Einschätzung, dass der militante Kern der Hausbesetzer mit dem Terrorismus sympathisiere, woraus eine neue terroristische Bewegung entstehen könnte. In Nürnberg kam es kürzlich zu 140 Festnahmen unter Hausbesetzern.

      Auf der Couch liegend, im Bademantel, leicht fiebrig, zerstreut einen Roman lesend: da wird man von der Frage, »wer


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