Mitgeschrieben. Michael Rutschky

Mitgeschrieben - Michael Rutschky


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unmissverständlich bezeugen, dass er, wie Wellershoff zu sagen pflegt, »nicht berechtigt ist zu schreiben«. Aus dem Begleitbrief: »… warum wird, wer Humanismus und Aufklärung nicht aus seinem Kopf kriegen kann, sie verwirklicht sehen will, in die unendliche Kälte des Profitschattens abgestellt, nach draußen, nach außerhalb, ins Abseits der Gesellschaft?«

      Folgt eine Kurzbeschreibung, wie er weder als Germanist noch als Nachrichtentechniker Arbeit gefunden habe und von 513,12 Mark Arbeitslosenhilfe leben müsse. »Ich arbeite schon einige Zeit an einem Roman und bin dabei, sehr viel Kurzprosa bis zur Druckreife zu überarbeiten. Insofern ist jeder verkaufte Text eine Ermutigung und eine Existenznotwendigkeit für mich als Schriftsteller. Andererseits frage ich mich: Die seltenen Glücksfälle in der Literaturhistorie, wo ausgezeichneter Journalismus und der Zeit widersetzte Poesie zusammentreffen, wer verhindert sie permanent? Wer stellt die Verfasser und Dichter, kaltblütig und betriebsblind, ins soziale und poetische Abseits? Hat sich so wenig geändert in den Jahrhunderten abendländischen Fortschritts?«

      Der Brief ist mit »Lieber Hans Magnus Enzensberger« überschrieben, verzichtet aber aufs Duzen. Frau K. hat die Manuskripte zurückgeschickt und den Brief in den Papierkorb geworfen.

      Der bayerische Ministerpräsident empfängt im Prinz-Carl-Palais 91 Polizisten, die in den letzten Jahren bei Einsätzen verletzt worden sind. Besondere Aufmerksamkeit widmet er fünf Beamten, die an den Auseinandersetzungen um das Atomkraftwerk in Brokdorf (Schleswig-Holstein) beteiligt waren. Ein demokratischer Rechtsstaat könne solche gewalttätigen Konflikte keinesfalls dulden – im Übrigen beobachte er mit Sorge, dass in der Gesellschaft zunehmend Verständnis für diese Art von Gewalttätigkeit sich ausbreite.

      Anders als die Anreden machen die verschlossenen Türen und das Anklopfen keine Probleme.

      Christel Doppler, die Sekretärin, sitzt ohnehin im Offenen, nämlich in der Diele der ehemaligen Villa, von der aus die Treppe nach oben führt, wo Jürgen Felz und Elli Ettlich von Photo ihre Türen regelmäßig geöffnet halten. Das Zimmer von R. dagegen, unten, ist regelmäßig geschlossen, im Unterschied zu dem von Frau K., die zwei ihrer drei Türen offen lässt: in die Diele (zu Christel Doppler) und in das dreifenstrige Zimmer von Dirk Bickel, eine Art Alkoven. Dessen Tür zu Michel ist wiederum geschlossen; ebenso Michels Tür zu Frau K.

      Was das Anklopfen betrifft, so pflegen Christel Doppler ebenso wie Frau K. bei Michel wie bei R. sich seiner zu befleißigen; bei R. kommt Bickel meist so herein. Michel hat sich bei R. einmal das Anklopfen verbeten, und er betritt dessen Zimmer ebenfalls ohne Signal – freilich auffallend laut und kräftig die Tür öffnend, was gar nicht zu ihm passt.

      R. war beim Zahnarzt, hat sich die Brücke einsetzen lassen und dann Schmerzen, gegen die er Aspirin schluckt. Seinen Theorien zufolge müsste er zu jeder zugreifenden Tätigkeit unfähig sein. Tatsächlich aber redigiert und montiert er, ins Büro zurückgekehrt, die von Axel Matthes vermittelten »Aufzeichnungen aus Nicaragua« mit leichtester Hand.

      Der Gaststätte Weißes Lamm in Schongau bescheinigt eine ministerielle Urkunde, dass sie sich um die Pflege des traditionellen Landgasthofes verdient mache oder so ähnlich, Kathrin liest die Urkunde richtig durch. Sie essen Rehbraten mit Spätzle, Blaukraut und Salat – R. isst sehr vorsichtig mit seinen schmerzenden Zähnen.

      Am Nebentisch eine Gruppe Jungs, die norddeutsch spricht; R. hält sie wegen ihrer kurzen Haare für Rechtsradikale; Kathrin meint später, auf der Rückfahrt, als sie die Szene noch einmal durchgehen, es seien Absolventen einer Segelschule am Ammersee gewesen.

      An einem anderen Tisch spielen junge Männer Karten, Einheimische, aber mit langen Haaren und Bärten; einer schimpft immer wieder los, »so einen nennt man einen schlechten Verlierer« (kommentiert Kathrin), und die anderen replizieren nicht weniger drastisch. Kathrin meint, gleich müsse die zünftig-bayerische Prügelei losgehen, wie sie hier zum Brauchtum gehöre (und zu dem traditionellen Landgasthof passt). Die Kellnerin, ländlich kurz und breit, im Dirndl, hat naturkrauses Haar, das sie aber höchst ungeschickt oben nach vorn und seitlich nach hinten zu frisieren versucht hat, wo es sich überall sträubt und absteht.

      Und nicht zu vergessen: Die drei Berliner, die über die »Literarisierung der Wissenschaft« und den »Regionalismus des Argumentierens« räsonieren.

      »Der Magnus«, erklärt Frau K., sei höchst angetan von der Nicaragua-Geschichte und wünsche sie unbedingt an Stelle der von Gaston Salvatore so heftig befürworteten El-Salvador-Recherchen ins Heft. (Gestern bei dem Ausflug erzählte Mathias Greffrath, er habe kürzlich Frau K. tief gekränkt, als er sie nicht auf Anhieb duzte.)

      »Damit«, erklärt R. zeremoniell-ironisch, »will ich nichts zu tun haben. Das sollen die hohen Herren unter sich ausmachen.«

      Später kommen beide in die Villa; und wieder ist es nur Gaston Salvatore, der R. begrüßt. In dessen Zimmer liegt der Hund auf einem Sessel, und Gaston Salvatore will ihn berühren, worauf der Hund knurrt und bellt. »Er ist sehr zurückhaltend«, erklärt R., und Gaston Salvatore repliziert: »Hunde sollen ja so ähnlich sein wie ihre Herren.«

      Am Morgen kommt William Iser in die Redaktion – eigentlich sollte er schon gestern eintreffen.

      Aber er wollte doch noch das verabredete Manuskript über die Berliner Hausbesetzer fertigstellen, ein Manuskript, von dem er am Telefon behauptet hatte, es fehlten nur zwei, drei Seiten. Allerdings ist das Manuskript, das er jetzt mitbringt, zu weniger als der Hälfte fertig. Er soll sich also hier hinsetzen und es unter Aufsicht abschließen.

      Gestern bestritt Gaston Salvatore den größten Teil der Redaktionskonferenz damit, immer wieder diesen Artikel ins Spiel zu bringen, darauf zu dringen, dass in den Strukturplänen Platz für William Iser offen bleibt. Stumme Blickwechsel der anderen; niemand sagte was dagegen. Morgen um zehn, konnte die Herausgeberin durchsetzen, müsse das Manuskript fertig sein.

      Irene Dische ist eingeflogen worden mit ihrem Text über die reichen Juden in der BRD. Das Manuskript wird halbiert, Michel redigiert die erste, R. die zweite Partie, während Irene Dische mit Gaston Salvatore und Frau K. in deren Zimmer sitzt und plaudert. Einmal kommt R. herein und stellt zwei Fragen, die sie unter Entschuldigungen, schlecht formuliert zu haben, beantwortet. Gaston Salvatore und Frau K. hören zu und schweigen.

      Es verhielt sich zwar so, dass Michel und R. jetzt die dienstbaren Geister machen mussten; der Druck des Redaktionsschlusses beförderte sie aber zugleich zu den einzigen, die richtige Arbeit haben.

      Der Juttavater sitzt in seinem Sessel vor dem Fernseher. Er trägt Kopfhörer, weshalb das Gerät ohne Ton laufen kann – bis zu sieben Stunden täglich, klagt die Juttamutter, verbringt er so.

      Es gibt eine Fernbedienung, und er wechselt ab und zu die Programme: So möchte er sich einen Bericht der Tagesschau über akute Probleme in Krankenhäusern ersparen. R. braucht ihn nicht zu überzeugen, dass »Nur die Sonne war Zeuge« sie besser unterhalten wird als die Wencke-Myhre-Show: Er merkt es gleich selbst.

      Allerdings lässt seine Aufmerksamkeit oft nach; er schließt dann die Augen und scheint zu schlafen, und sein altes Gesicht schaut schon so aus wie das eines Toten. Doch hat er den Kopfhörer nicht abgenommen; die anhaltenden Tonfolgen des Dialogs, auch die Filmmusik tun ihm gut, so wie ein Kind besser einschläft, wenn es im Nebenzimmer die Eltern plaudern hört, die es gebeten hatte, sie möchten die Tür einen Spalt offen lassen.

      Der Fernseher hält für den alten Mann die Tür zum Leben offen, während er sich langsam daraus zurückzieht. Unterdessen saßen Kathrin und Jutta mit der Juttamutter in der Essecke vor der Küche zusammen. Sie schnitten Stoff zu für Klamotten und räsonierten, wie man hörte, ununterbrochen.

      Irgendwo zwischen Fulda und Würzburg winkt sie ein Polizist auf die äußerste linke Fahrbahn: die beiden anderen sind, wie sich gleich zeigt, gesperrt. Mehrere Autos, auch welche vom ADAC, ein Hubschrauber, dann der Unfallwagen.

      Er liegt auf dem Dach, das bis auf die Höhe der Sitze eingedrückt ist. Kathrin schaut weg; R. sieht einen Mann auf der Bahre, um die weißgekleidete Helfer knien. Er liegt auf der Seite, viele kleine Wunden im Gesicht. Er scheint ununterbrochen zu reden.

      Enzensberger


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