Mitgeschrieben. Michael Rutschky

Mitgeschrieben - Michael Rutschky


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Das ist sie aber gar nicht, und Frau K. sucht ihn zu beruhigen. Vielleicht aus schlechtem Gewissen; denn gestern erklärte sie R. heiter, »im Augenblick müssen wir ja keine Artikel ranschaffen«.

      Es brauchte eine Weile, bis R. verstand, dass Enzensberger »Panik« (so nennt er das) unumwunden dann äußert, wenn er sie empfindet, unabhängig von der Realität. »Alles geht schief, wenn ich mich nicht darum kümmere.«

      Tatsächlich tritt er hier nur selten in Erscheinung und bringt gern zum Ausdruck, dass er Wichtigeres zu erledigen hätte als diesen redaktionellen Kram. R. denkt von sich ja ungefähr dasselbe.

      Das Autofahren bewirkt keine Linderung; eher verschärft es die Schmerzen durch seine Selbstverständlichkeit (die gewöhnlich befriedigt). Dass die Sonne scheint, die Landschaft sich schön weitet und wieder zusammenzieht, dass Biberach ebenso wie Tübingen hübsch ausschaut, dass dies alles, wie Kathrin lobend zusammenfasst, halt Süddeutschland ist, es scheint gar nicht zu existieren.

      Das Schreiben des Briefes entwickelt sich mit einer Selbstverständlichkeit und Präzision, die das Grübeln und Leiden der letzten Tage rückwirkend in Arbeit verwandeln.

      Kathrin bemerkt, nachdem R. ihr, vom Alkohol behindert, den Brief vorgelesen hat: Er sei eben Schriftsteller; denn reden könne er halt nur schlecht in solchen Situationen, wohl aber darüber schreiben.

      Michel kommt mit dem ihm eigenen eleganten Ungeschick ins Zimmer und spricht über den Brief an die Herausgeberin, von dem R. ihm ja eine Kopie habe zugehen lassen.

      Ja, er habe von der Operation der Herausgeberin erfahren; freilich habe er von ihrem Brief nicht, wie darauf vermerkt, eine Kopie erhalten. Die Operation selbst hätten Enzensberger, Gaston Salvatore und die Herausgeberin irgendwie verabredet.

      Im Übrigen bilde das Hauptproblem, dass der Verlag nicht nur wegen des schlechten Verkaufs der Zeitschrift, sondern vor allem deshalb in Schwierigkeiten stecke, weil die holländischen Partner sich zurückziehen wollen. Jetzt suche man nach neuen Partnern; vorerst müsse man an allen Ecken sparen, vor allem stehe die Vorfinanzierung der Zeitschrift auf zwei Jahre in Frage. Einstellen könne man sie aber auf keinen Fall, das würde die Anzeigenkunden misstrauisch machen im Hinblick auf die anderen Objekte des Verlags.

      Im Übrigen habe er beobachtet, dass der Vorhalt, R. engagiere sich zu wenig für die Zeitschrift, schon vor seiner Zeit entstanden und nicht mehr beseitigt worden sei, aus Gründen, die er nicht kenne. Auch er habe, nebenbei gesagt, nicht die Absicht, seinen Zweijahresvertrag zu verlängern – aber darüber möge R. bitte schweigen.

      Enzensberger ruft an und erklärt mit seiner heiteren Stimme, er habe den Antwortbrief von R. an die Herausgeberin mit Vergnügen gelesen, er hätte ebenso reagiert an seiner Stelle. Sie sollten sich unterhalten, welche Perspektiven R. für sich selbst sehe.

      Im Übrigen habe die Herausgeberin ihm und Gaston Salvatore den Brief zwar angekündigt, aber wie er nun ausgefallen sei, »das geht vollständig auf sie und ihre Intelligenz zurück«.

      »Nun«, repliziert R., »Sie sind doch durchaus in der Lage, Schreibstile zu imitieren …« Ein Anfall von Paranoia.

      Mit Enzensberger und Michel zum Mittagessen und zur Beratung. Michel und R. bestellten das Gleiche, Parmaschinken und Melone. Enzensberger erläutert noch einmal die höchst komplizierten ökonomischen Schwierigkeiten des Verlags – und ein Konzept zur Lösung des Konflikts.

      R. sei doch kein Journalist, sondern Autor; er, Enzensberger, habe schließlich auch mal so angefangen. Dass R. ohnehin nicht bleiben wolle, habe die Geschäftsleitung ungemein beruhigt; die Arbeit der Redaktion müsse aber so weitergehen wie bisher, dürfe sich an den Aktionen und Reaktionen der Herausgeberin nicht stören. R. solle fordern, dass sie ihm die ersten drei Monate des nächsten Jahres ausbezahlen, ohne dass er dafür arbeiten müsse.

      Dann fährt R. für eine Stunde nach Hause. Kathrin liegt auf dem Sofa im Studio. Sie fiebert; die Ärztin hat ihr eine Penicillinspritze gegeben, da der sehr schmerzhafte Versuch, den Abszess im Ohr zu öffnen und so zu entfernen, misslungen ist.

      Im Übrigen, hatte Enzensberger heiter erklärt, könne R. zufrieden sein. Sein Brief habe die Herausgeberin gründlich geärgert, ja verletzt.

      Michel pflegt die Toilette im oberen Stockwerk der Villa zu benutzen. Damit Christel Doppler ihn nicht hört, vermutlich, denn unten steht ihr Schreibtisch direkt daneben; während oben verschiedene Räume die Toilette von den Büros – Elli Ettlich und Jürgen Felz – trennen.

      Michel besucht das Klo sehr viel seltener als R. Weder trinkt er durchgehend Kaffee oder Wasser oder gar Bier; noch scheint er regelmäßig an den Händen zu schwitzen, was bei R. das häufige Waschen erfordert.

      Es fühle sich an, erklärt Kathrin, als stecke ein Tennisball in ihrem Ohr. Und nicht nur das: der Abszess erinnere sie an gewisse Kunstobjekte, die sie in Berlin mal im Haus am Wannsee bewundert habe, kugelförmige Beutel, die pulsierten und schnauften.

      Beim Kaffeetrinken guckt R. zwar ab und zu auf die Uhr, kann sich aber gleich beruhigen. Er werde heute ja nicht um zehn in die Redaktion fahren. Dann bringt er Kathrin zu ihrer Ärztin und geht mit N. in den Olympiapark. Den Hang hinaufsteigend, die Regenluft atmend, die Wolkenstaffeln betrachtend meint R. – wie seit langem nicht mehr – genau zu wissen, dies sei die Wirklichkeit, nichts sonst. Bei der Rückfahrt nimmt er Kathrin mit, die auf dem Nachhauseweg war. Dann Spaziergang in der Hohenzollernstraße; Massenaufkommen von Pierrotpuppen in einer Geschenkboutique. Bei Houdek in der Hohenzollernstraße Kotelett mit Salat und Pommes frites; die unglückliche Zeit bei der anderen Zeitschrift, als er hier öfter zu Mittag aß, hatte er ja ebenfalls überstanden.

      Nachmittags beschriftet R. Fotografien, mit dem angenehmen Gedanken, dass dies Arbeit sei, auch wenn noch völlige Unklarheit darüber herrscht, wohin sie führt. Dann schreibt er mehrere Briefe und telefoniert mit Niklas Stiller, Helmut Lethen und Heinz Bonorden. Nachdem er »Die Lehre der Sainte Victoire« beendet hat, beguckt er im Fernseher die zweite Folge von Feuchtwangers »Exil«. Der Alkoholismus bleibt unter Kontrolle.

      Leider misslingt ihm auch der zweite Versuch, die Heizung mit Wasser aufzufüllen.

      Gerade als R. zum Abflug nach Frankfurt aufbricht, ruft Rainald Goetz an. Er habe ein geradezu erpresserisch dringliches Angebot vom Spiegel erhalten, dort am 1. Juni als Redakteur einzutreten. Was tun?

      Es scheint sich so zu verhalten, dass R. den ganzen Tag auf den Impuls wartet, der ihn die Herausgeberin anrufen ließe, damit sie einen Termin für das Scheidungsgespräch vereinbaren. Der Impuls bleibt aber aus.

      Stattdessen setzt sich das Donnerstagsschema mit dem Lesen von Stern und Zeit durch, das eine ungeheure Verführungskraft besitzt und R. reif für das Werbefernsehen am Abend zurücklässt.

      Abends kommt Gaston Salvatore – Frau K. hatte ihn, morgens in eine Taxe steigend, angekündigt – und R. hätte wohl von ihm was erwartet, eine Ermutigung oder einen Konflikt. Aber er geht gleich wieder, hat die Kopie des Briefes an die Herausgeberin, die in seinem Postkorb lag, kommentarlos eingesteckt.

      Mai

      »In der Einschätzung meiner Lage scheinen wir ja übereinzustimmen – also müssten wir uns leicht über ihre Liquidation einigen können.« Wenn R. sich an die Erfahrung der Ostertage hält, muss er den Satz als Arbeitsergebnis des ganzen Tages einschätzen.

      Spät in der Nacht, nachdem Achim, der seine Tasche in einem Taxi vergessen und weder Geld noch Hausschlüssel zur Verfügung hat, gekommen und gegangen ist mit Leihgeld und seinen Ersatzschlüsseln – spät in der Nacht entsteht das zweite Arbeitsergebnis, der Gedanke, dass das Gespräch mit der Herausgeberin keinesfalls beim Mittagessen, womöglich


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