Mitgeschrieben. Michael Rutschky
Pathanen-Häuptling Hadji Abdullah Whab eine Rede, in der er den unbedingten Willen seines Stammes, die Besatzer zu besiegen und zu vertreiben, bekräftigt. »Wir haben nicht bekommen, was wir brauchen, gebt uns bessere militärische Ausrüstungen, und wir werden der Welt zeigen, dass wir sie zu benutzen verstehen.« Der bayerische Ministerpräsident, in einen grünen Safari-Anzug gekleidet, schwitzt stark. Er reagiert verhalten auf die Mahnungen des Häuptlings, der mit den Sätzen schließt: »Als ich im letzten Krieg von Deutschlands Niederlage hörte, habe ich geweint und war verzweifelt, denn die Deutschen hatten auch gegen unsere Feinde gefochten.«
So viel gab es am Haus Bonner Straße 29 (gegenüber) heute zu sehen. Der junge Mann und die junge Frau, die R. in einem Fenster des obersten Stockwerks mal beim Geschlechtsverkehr beobachtet zu haben meint, schleppen Kartons mit nichtidentifizierbarem Inhalt – Plastikflaschen? Klopapierrollen? – zu einem vor dem Haus geparkten gelben Audi und verstauen sie darin. Von oben, aus einem anderen Fenster dieses Stockwerks, sieht ihnen ein älteres, grauhaariges Paar zu und scheint Instruktionen zu geben. Später kommt der Mann nach unten und berät beim Verstauen der Kartons. Dann erscheint eine braunhaarige Frau von Mitte 40 oben am Fenster und schaut ebenfalls zu. Abfahren sah R. den Audi aber nicht.
Welche Ideen sind entstanden? Großeltern, Eltern und Kinder in ein und derselben Wohnung? Oder Sohn und Schwiegertochter? Und diese sind mitten im Auszug begriffen, um ihr eigenes Leben anzufangen?
Gerade versank R., wie gewöhnlich, in der zerstreuten Lektüre des Spiegel, als die Hand nach dem Telefon greift und 13 wählt. »Rutschky. Wie ist es, wann kommen Sie herüber?«
Sie gibt sich ganz weich und zugänglich. Morgen vielleicht, gewiss aber übermorgen, leider okkupieren sie immer noch diese Holländer, Sie wissen schon … Zwar zitterten R. die Hände ein wenig, aber seine Stimme klang wohl fest und geradezu streng.
Sie sind mit Kurt Scheel verabredet; um zehn schauen sie sich auf seinem Farbfernseher »Hier hast du dein Leben« von Jan Troell an. Auch Achim will kommen
Aber schon um halb neun ist R. so erschöpft und gelähmt, dass er nur noch Gin Tonic trinken und fernsehen möchte, was gerade kommt. Trotzdem steigen sie ins Auto und fahren in die Klenzestraße. Doch will sich einfach kein Parkplatz auftun. Sie kurven um die Ecken des Quartiers, mehrfach dieselben, und diese Bewegung schleift sich allmählich so gründlich ein, dass R. sie gar nicht mehr unterbrechen könnte, selbst wenn da plötzlich ein freier Parkplatz wäre.
Also fährt er wieder nach Hause, der Wunsch nach Gin Tonic und Fernsehen hat gesiegt. »Quincy«, eine blöde US-Serie mit einem Gerichtsmediziner als Held (Jack Klugman). Um zehn schaltet Kathrin um auf Jan Troell – sowieso kein Farbfilm; und Kathrin erklärt nach den ersten Bildern: »Das kann ich jetzt unmöglich sehen.«
Gestern Nacht musste sie zwei Stunden mit Sigrid Hacker telefonieren und ihre wirren Selbsterklärungen anhören, wie sie jetzt ihr Leben revolutioniert; gestern Abend musste sie mit N. zum Tierarzt, eine Harnleiterentzündung, Eiter trat aus.
Mittags hatte sich Michel von Goetz und R. verabschiedet, er fahre nach Frankfurt und werde Goetz’ Manuskript, wenn es fertig ist, am Montag begutachten. Aber gegen vier Uhr kommt er wieder herein, er sei einfach zu neugierig.
Sie geben ihm die ersten Seiten. Goetz ängstigt sich so gründlich, dass er kaum sprechen kann; auch R. erfüllt Unbehagen. »Diese Situation hat mich immer gequält. Aber wie soll man es machen? Die Manuskripte müssen doch gelesen werden von den Verantwortlichen.« Sie beruhigen sich, arbeiten weiter und reden über anderes; R. bringt den Rest des Manuskripts in Michels Zimmer.
Dann kommt Michel in das Zimmer von R. und bittet sie hinüber. Enzensberger ist im Prinzip einverstanden; was ihn stört, das ist die Beschreibung von Transatlantik auf der Buchmesse. Es gibt die Regel, Transatlantik kommt in Transatlantik nicht vor. Sie gilt auch für das mehrfache Auftreten des Schriftstellers E. in dem Text.
Aber Goetz gerät so außer sich, dass er trotzig den Text zurückzuziehen droht, wenn er nicht genauso kommt, wie R. und er ihn geschrieben haben. Was wiederum E. enerviert.
Unterdessen einigt R. sich mit Michel auf kleinere Veränderungen – und ihm fällt das entscheidende Argument ein: Der Auftritt von Transatlantik bildete für das Feuilleton das zentrale Ereignis der Buchmesse, also muss die Zeitschrift an dieser Stelle von Goetz’ Bericht über seine Reise durch das Feuilleton vorkommen. »Da haben Sie Recht«, gibt E. nach, »auch wenn’s mir nicht passt.«
Goetz und R. trinken noch ein Bier zusammen; dann fährt er mit seinem alten Mercedes-Diesel zu einem Punkfest in der Nähe von Nürnberg.
Kathrin bringt aus dem Briefkasten eine Todesanzeige mit. Dieter Garbrecht, am 29. April auf einer Urlaubsreise in New York verstorben (»der Tag, an dem wir die elektrische Schreibmaschine kauften«). Schockhaft entsteht ein Gefühl der Leere, des Unglaubens, der Unwirklichkeit; »das also nennt man fassungslos«.
R. will Genaueres wissen; Kathrin hält es, was den Schock angeht, für wirkungslos. Nachmittags versucht R. Michael Schröter zu erreichen, er ist aber nicht da. Dann ruft R. doch Annette Garbrecht an: Dieter Garbrecht erlitt einen Gehirnschlag und stürzte unglücklich. Er zog sich so schwere Schädelverletzungen zu, dass er drei Wochen bewusstlos im Krankenhaus lag.
Es ist gut, dass er starb, denn die Hirnschäden wären irreparabel gewesen.
Mittags bricht Kathrin überstürzt nach Frankfurt auf: um Margarete Freudenthal (Gred Sallis) zu interviewen, die schon nächste Woche nach Israel zurückkehrt. Außerdem wird heute der Juttavater operiert, und sie hat versprochen, danach eine Woche in Kassel zu verbringen.
Abends fährt R. mit M. und dem Hund nach Schleißheim, um ihren Geburtstag mit einem Essen zu feiern. Aber die Schlosswirtschaft hat heute geschlossen – was R. irgendwie ahnte. Bleibt der Frankenhof in der Karl-Theodor-Straße; M. isst mit Appetit – »nur dass das Artischockengemüse zu salzig ist« – trotzdem fühlt R. sich irgendwie impotent, weil er ihr nicht mehr bieten konnte.
Um 22 Uhr – sie sehen im österreichischen Fernsehen einen schlechten französischen Krimi mit Romy Schneider und Maurice Ronet – ruft nicht, wie verabredet, Kathrin an, sondern der Juttabruder. Sie sei nicht bei ihnen eingetroffen, ob sie sich bei R. gemeldet habe?
Um 22.30 Uhr ruft sie dann endlich selber an, manisch erregt, und startet einen Redeschwall. Wie sie mit der alten Dame sofort in ein intensives Gespräch geraten sei. Dass Margarete Freudenthal im Frankfurter Bahnhofsviertel in einem Hotel mit haut gôut untergekommen sei. Dass ihr zweiter Mann vor wenigen Jahren mit 94 gestorben sei. Dass das Opfer offensichtlich der Sohn sei, der, von Depressionen gelähmt, in Australien vegetiere, und so weiter.
Dieter Garbrechts Mutter fragt Annette Garbrechts Vater, ob sie noch ein Valium nehmen dürfe. Sie habe bereits ein anderes Beruhigungsmittel geschluckt – bei der Übermittlung von dessen Namen entstehen Schwierigkeiten. Annette Garbrechts Mutter gibt Dieter Garbrechts Mutter das Valium, das diese mit einem Schluck Wasser hinunterspült, bevor Annettes Vater auf die Frage hat antworten können (er ist gar kein Arzt). »Was hast du da geschluckt?«, fragt ihr Ehemann (sie ließ sich von ihm heiraten nach dem Tod seines Vaters, pflegte Dieter Garbrecht zu spotten, weil der Mann schon glücklich wäre, wenn er ihr bloß die Füße küssen dürfte). »Was hast du da eben genommen?« – »Valium.« – »Was?« – »Valium.« – »Hat nicht der Arzt gesagt, du darfst nicht …?« – »Ach was. Es hat mir schon damals, als Dieters Bruder starb, sehr geholfen. Ich will hier doch keine Szene machen.«
Das ist die Szene. Sie spielt im Restaurant Krohn, dem Eingang zum Hamburger Friedhof Ohlsdorf gegenüber, kurz vor der Beerdigung.
Trotz der Szene mit seiner Mutter will R. das Lächerliche, Gezierte, manchmal geradezu Tuntenhafte von Dieter Garbrecht nicht richtig vorstellbar werden. Dass er tot ist und – in welcher Haltung? mit welchem Gesicht? – in dem Sarg da liegt, das lässt sich mit keinem Bild des lebendigen Mannes verknüpfen.
»Ich habe gestern Abend noch mit Goetz telefoniert«, erzählt R., »er hat es schwer bereut.«
Er habe sowohl Enzensberger als auch Salvatore, erzählt