Mitgeschrieben. Michael Rutschky
schreibt Briefe, schickt Manuskripte zurück, wirft Fotokopien in den Papierkorb: räumt seinen Schreibtisch leer.
Danach geht er in das Zimmer von Frau K. – sie kehrte gestern von ihrer Reise zurück –, wo sie, Dirk Bickel und Michel schon eine Weile plaudern. »Carlos«, sagt sie gerade, »möchtest du mal eine norwegische Zigarette probieren?« – »Danke«, antwortet Michel zeremoniell, »ich glaube nicht.«
Zum Ordnungmachen hat R. die Phantasie verführt: Jetzt gleich gehe ich fort, und ich will meinen Schreibtisch dem Nachfolger leer übergeben.
Zum Beruf des Fachautors für Hifi-Technik, erzählt Heiner Uber, kam er folgendermaßen. Als Student habe er, immer schon an Musik interessiert, immer wieder in Hifi-Läden gearbeitet, um Geld zu verdienen; in einem bedeutenden Geschäft sei plötzlich der Fachmann ausgefallen, und man habe ihn an seine Stelle gesetzt – worauf er sich so gründlich einarbeitete, dass er sogar verbesserte Lautsprecher basteln konnte. Dann las er eine Anzeige: Gesucht wurde ein Autor für Hifi-Technik, »das ist eine echte Marktlücke«, denn die Techniker selber, die sich in den Geräten auskennen, können nicht schreiben.
Aber jetzt, nach mehr als zwei Jahren, habe er genug, »sie tun so, als wäre das Klirren das zentrale Weltproblem.« Jetzt arbeite er an seiner Dissertation. – Worüber? – Probleme der Kommentierung Stifters. – Bei wem? – Frühwald.
Gertraud Busch kommt aus Italien angereist, zusammen mit Werner Middendorf, der sich freilich nach einer halben Stunde verabschiedet.
Gegen neun Uhr kommt das Ehepaar Doppler; sie können nicht weiterfahren, weil Bernhard Dopplers österreichischer Führerschein in der BRD nicht für den Lastwagen gilt, mit dem sie von Klagenfurt nach Paderborn umziehen.
Eigentlich erwartet R. noch Stefan Heerich und Michael Becker, die sich heute mit ihm treffen wollten (später sagen sie ab). Dann ruft Peter Krumme an, der einen Schlafplatz braucht – »leider sind wir ausgebucht«.
Trotzdem trinkt R. ein Glas Wein nach dem anderen, in dem Gefühl, »es ist ja doch nichts los«. So dass er um elf Uhr ins Bett muss.
R. fährt mit dem Ehepaar Doppler nach Riem. Das Mädchen am Schalter von InterRent scheint mit dem Problem vertraut. Es kommt wohl öfter vor: R. wird als Fahrer für den Lastwagen eingetragen. Das könnte nur im Fall einer Polizeikontrolle kritisch werden – Bernhard Doppler wiegelt ab: Er erklärt, dass man ihn bei den 20000 Kilometern, die er durch die BRD gefahren ist, nur ein einziges Mal angehalten habe. Und da wollte der Polizist nicht seinen Führerschein, sondern seinen Pass sehen.
Der Rockgruppe »Breaking Glass«, insbesondere ihrer Sängerin Kate, gelingt der Aufstieg; vom Kneipenauftritt über billige Tourneen bis zur LP. Danny, der Lover von Kate und unermüdliche Manager, organisiert die Karriere.
Aber als sie gelungen ist, hat Danny die Gruppe verlassen, ebenso der Drummer und der Saxophonist, und Kate liegt mit schweren Depressionen in einer Klinik. Die Musik wurde ekelhaft gesüßt – »was ist aus dem Rock ’n’ Roll geworden!?«, schreit Danny, als er sie in der Kneipe hört, er greift eine Flasche und schmeißt sie in die Musikbox.
Merkwürdig, so R. nach dem Kino, das Interpretationsschema »Verrat und Korruption« kommt immer schneller zum Zuge. Früher ließ man den Leuten ein paar Jahre Erfolg und fing erst dann an mit den Vorwürfen, sie hätten ihre Jugend verraten, seien vom Kommerz korrumpiert usf.
Aber Goetz interessiert das Thema nicht. Er, der am Anfang des Erfolgs steht, hat die Vorwürfe vermutlich selber schon oft genug zu hören bekommen.
Auf dem Parteitag in München wird der bayerische Ministerpräsident mit 96,7 Prozent der Stimmen wieder zum Vorsitzenden gewählt. Der bayerische Ministerpräsident nutzt seine Grundsatzrede für eine Generalabrechnung mit der Bundesregierung.
Die Krise ist da, und jeder weiß es. Es wird nicht mehr regiert, es wird nur noch schlecht verwaltet. Während seine Partei die Wirklichkeit zeigt, wie sie ist, und Wege aufzeigt, die vernünftig und gangbar sind, beißt sich die Partei des Bundeskanzlers in ideologischen Dauerdiskussionen fest. Wer, wie der Bundeskanzler, seine Partei nicht in Ordnung hält, kann auch Staat und Gesellschaft nicht in Ordnung halten bzw. bringen. Weite Bevölkerungskreise erfüllen Enttäuschung und Angst, denn die Bundesregierung hat das Land an den Rand eines Staatsbankrotts geführt und eine Vertrauenskrise ausgelöst, die sich zu einer Staatskrise auszuwachsen droht. Die Bundesregierung muss den politischen Offenbarungseid leisten.
R. beschäftigt der Mann, der in seiner Reihe am Fenster des Flugzeugs sitzt. Fett, in einem Pepitaanzug, mit weißem Hemd und Schlips, das üppige graue Haar nach oben und hinten gekämmt.
Irgendetwas stimmt nicht daran, er ist nicht der Graue Löwe, der er gern wäre. Pepitaanzüge gelten als ordinär; das Haar wächst nicht üppig genug, um eine Mähne zu bilden, außerdem zeigt es, weil fettig, Strähnen. Er liest nicht die FAZ, sondern Die Welt. Und später, das ist das Detail, das noch fehlte, später legt er das unzureichend bewachsene und deshalb nicht so zu nennende Haupt auf die Kopfstütze, er schläft und schnarcht hilflos.
»Doch bloß ein Vertreter.«
Köln. Am Frühstücksbüffet des Hotel Intercontinental ergeht es R. wie immer an solchen Büffets: Er findet die gekochten Eier nicht, von denen er gern eines verzehrt hätte; er kann sich nicht zu einem Glas Orangensaft entschließen, geschweige zu den Cornflakes mit Milch, die er gern mal wieder probiert hätte; ein Mann vor R. hebt den Kupferdeckel von einem Rechaud: ein gelblicher Brei, zu dem R. »Porridge« einfällt; aus einem anderen Rechaud legt er vier kleine gebratene Würstchen dazu, was R. richtig ekelt; die Brötchen in dem Korb sind gerade vergriffen.
Als er zwei lappige Toastbrote mit Wurst und Käse lustlos gegessen hat, entdeckt R., von seinem Platz aus, den Korb, der die gekochten Eier enthält; das erste Rechaud enthält nicht Porridge, sondern Rührei, in dem zweiten wurde eben der gebratene Schinken nachgefüllt – R. hätte ein englisches Frühstück haben können, und das hätte ihn erfrischt nach dem kurzen und schlechten Nachtschlaf.
Aber jetzt, da R. das alles richtig gesehen hat, kann er sich auch nicht dazu entschließen, noch einmal von vorn anzufangen.
Harald Wieser, erzählt Goetz, habe ihm erzählt, dass Enzensberger ihm, Wieser, anvertraut habe, seine, Goetz’, Feuilleton-Reportage sei das Naivste und Dümmste, was die Zeitschrift je gedruckt habe. Er, Goetz, werde sich unsterblich blamieren.
Sicher, so R., naiv ist sie, aber das war doch von vornherein klar, dass Sie nicht der große Durchblicker sind, auch Enzensberger war es klar. Das »Naivste und Dümmste« geht gewiss auf Wiesers Kosten – er nimmt Ihnen, sagt Kathrin, übel, dass Sie nicht zum Spiegel gegangen sind, dass er Sie nicht lancieren und protegieren konnte. Und Enzensberger, sagt R., musste Wieser kalmieren, weil Sie in der Zeitschrift geschrieben haben, Wieser aber noch nicht – er habe von Enzensberger sehr sarkastische Bemerkungen über Wieser und seine Fähigkeiten gehört. So geht es eben zu in der Branche.
Aber das überzeugt Goetz nicht, und R. ärgert sich solidarisch ein paar Stunden lang am Nachmittag.
»R136a«, liest R. in der SZ, »der von ganzen Hundertschaften von Astronomen beäugt und abgehorcht wird, ist wegen seiner Größe, Helligkeit und Masse ein Stern, der eigentlich nicht sein kann, weil er der wissenschaftlichen Diskussion nach nicht sein darf.« R. befällt eine intensive Angst. »Der Bonner Astrophysiker Wolfgang Kundt hält eine Sonne mit den von den Forschern Joseph Cassinelli, John Mathis und Blair Savage geschilderten Eigenschaften für ›nicht stabil‹, nach bisherigen Regeln müsste diese gewaltige Masse kollaborieren.« Auch dieser Druckfehler hindert die Angst von R. nicht an weiterer Expansion, als imitiere sie die Bewegung, die der Stern sich erspart. »Nach Auffassung der amerikanischen Astronomen besteht aber so gut wie kein Zweifel daran, dass es sich bei dem Objekt in der großen Magellanstraße«, das ist der Schreibfehler von R., »in der Großen Magellanschen Wolke um einen einzigen Stern handelt.«
Kathrin beschäftigt gerade die Rätselfrage, warum ist etwas und nicht nichts? Wieso sie das in den fünfziger Jahren besonders krass empfand. Und die Magellanstraße lieferte R. in der Kindheit eines der verführerischsten