Babel. Jan de Leeuw

Babel - Jan de Leeuw


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sonst sein? Letztendlich gab ihre Fantasie es auf; und eine Sub nach der anderen schlief ein. Naomi hatte mehr Mühe, ihren Schlaf zu finden.

      «A3 Unterdienstmädchen Naomi», sagte sie am nächsten Morgen zu ihrem Spiegelbild im Fahrstuhl. Sie presste ihre Hand auf die Metallplatte, das Licht sprang auf Grün, und der Spiegel glitt zur Seite.

      «Du kennst den Weg», sagte eine Stimme irgendwo über ihr.

      Im Badezimmer war alles unverändert. Seit sie am vorigen Tag hier geputzt hatte, war niemand mehr in dem Raum gewesen. Sie ignorierte den Zeitplan und ging mit Eimer und Wischmopp zur Schwimmhalle. Ein paar eiförmige Lämpchen unten im Becken erleuchteten matt den Raum, und die kleinen Wellen schrieben unbekannte Melodielinien auf die Wände.

      Sie klatschte in die Hände, und das Licht sprang an. Sie ging zu der Stelle, an der sie Alice zurückgelassen hatte. Nirgends eine Spur von dem, was sich tags zuvor hier abgespielt hatte. Als hätte es sich nie zugetragen.

      Sie wischte um das Schwimmbecken herum. Ab und zu spritzten ein paar Tropfen ins Wasser, und durch die Wellen schien das Mosaik zum Leben zu erwachen. Eine Frau mit einem Apfel in der Hand teilte ihre Aufmerksamkeit zwischen einer Schlange, die wie ein weggeworfener Fahrradschlauch an einem Ast baumelte, und einer nur langsam vorankommenden Naomi. Auch die Bauarbeiter auf dem großen Turm in der Mitte des Mosaiks unterbrachen ihre Arbeit, richteten sich auf und schauten zu, wie abwechslungshalber einmal jemand anders hier in Schweiß geriet.

      «Was hast du vor?»

      Es war Anika.

      «Sie ist nicht da. Wir brauchen uns nicht totzuarbeiten. Komm.»

      Naomi folgte ihr in Alices Schlafzimmer.

      «Es lässt mich nach wie vor nicht kalt.»

      Mit einer schwungvollen Geste zeigte sie auf die Stadt vor den großen Fenstern, als wäre sie persönlich für die atemberaubende Aussicht verantwortlich.

      «Siehst du, wie die Menschen da unten herumwuseln wie die Ameisen, während wir hier oben in den Wolken schweben? Wir haben es gut getroffen.»

      Naomi nickte.

      «Von hier oben sieht es aus, als könnte man sie mit einem Daumendruck zermalmen. Als könnte man mit den Fingern jedes dieser Mini-Autos wegschnippen, wie man einen Krümel vom Tisch fegt.»

      Sie berührte die Scheibe beinahe, war aber vorsichtig genug, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.

      «Wie schön muss es sein, sie vor sich knien zu lassen, sie für ihre Blicke und Beleidigungen zu bestrafen, für die Bemerkungen über deine Kleidung und dass du nur ein Dienstmädchen bist und froh sein darfst, dass sie …»

      Sie hielt inne, drehte sich um. «Wir haben Glück heute. Ihre Majestät ist immer noch nicht zurück.»

      Sie ließ sich in einen der Sessel fallen.

      «Ist die Katze aus dem Haus …»

      «Wie geht es ihr?», fragte Naomi.

      «Du glaubst doch nicht, dass uns einer das erzählt? Das Einzige, was wir tun müssen, ist, Befehle zu befolgen.»

      Sie legte ihre Füße auf den Tisch.

      «Du kannst Hans fragen, wenn du dir solche Sorgen machst, aber der wird nichts rausrücken. Der Mann ist beinhart. Nicht mein Ding, aber manche Mädchen mögen solche schweigsamen Typen.»

      «Du interessierst dich nicht für Hans?», fragte Naomi.

      «Ich mich für Hans? Pah! In seinen Träumen vielleicht. Und selbst dann kann er es in den Wind schreiben. Er ist viel zu sehr von sich eingenommen. Muskeln, Waffen und Großtuerei, so lässt sich dieser ganze Hans zusammenfassen. Auf solche Machos kann ich verzichten!»

      «Gut zu wissen», sagte eine Stimme hinter ihnen.

      Anika sprang auf.

      Hans stand im Zimmer, mit einem plüschigen kleinen Hund an der Leine. «Das hier ist deine Verantwortung, dachte ich.»

      «Lucy, du böser Hund!» Anika kniete vor dem Hund, damit Hans ihr rotes Gesicht nicht sah. «Wo hast du nur gesteckt?»

      Das Tier leckte ihr die Hände.

      «Ich habe ihn in einem der Gästezimmer gefunden», sagte Hans. «Und zwar angeleint an den Esstisch. Irgendwann einmal erwischen sie dich, Anika. Prynne hat auch im Rücken Augen.»

      «Ach was. Wenn sie mich kriegen will, muss sie früher aufstehen und erst mal ihre Erfrischungspausen sein lassen.»

      Anika führte ein imaginäres Glas zum Mund.

      «Ein intelligentes Mädchen wie du hat wahrscheinlich schon genau darüber nachgedacht, was sie tun wird, wenn man sie hier ohne Referenzen entlässt.»

      «Welchen Unterschied macht es, was wir tun? Die Prinzessin ist nicht da. Wie geht es ihr übrigens? Wir machen uns Sorgen um unser gelähmtes Vögelchen. Ist doch das erste Mal, oder, dass sie das Gebäude verlässt, seit ihre Familie – puff – in die Luft geflogen ist?»

      «Deine Zunge, Anika, wird dich noch mal in Schwierigkeiten stürzen.»

      «Du willst dich über meine Zunge beklagen?», fragte Anika.

      «Wie lang bleibt Fräulein Babel weg?», fragte Naomi.

      «Ja, Hans», sagte Anika, «wie lange wird unser schönes Leben hier noch dauern?»

      «Keine Ahnung.»

      «Sie ist doch nicht …?»

      «Es geht ihr gut.»

      «Ja, natürlich», sagte Anika. «Die Kleine besitzt einen vollständigen Hofstaat. Was hat sie zu klagen? Sie hat sogar Personal, um ihren Hund auszuführen.»

      Alle drei schauten sie auf das kleine Tier, das durch die plötzliche Aufmerksamkeit auf einmal wie verrückt im Kreis sprang.

      «Weil Betty nicht da ist, darf ich dreimal am Tag mit dem Vieh nach unten», sagte Anika zu Naomi.

      «Etwas körperliche Bewegung tut dir gut», sagte Hans, während er sich umdrehte.

      Anika warf die Hundeleine nach ihm, verfehlte ihn aber, und er ging lachend zur Tür hinaus.

      «Es kommt ein Tag, da werde ich …»

      «… ihn wie eine Ameise zermalmen?»

      «So in der Art. Dieser arrogante Arsch. Er hält sich für unverzichtbar, weil er sich über den alten Mann geworfen hat, als das Auto explodierte.»

      «Hans war bei dem Attentat dabei? Hat er auch gesehen, wer es getan hat?»

      Anika antwortete nicht. Sie raffte die Leine vom Boden, und der Hund sprang an ihr hoch, weil er dachte, sie gingen jetzt spazieren.

      «Lass mich in Ruhe, du dummes Vieh.»

      Anika schob ihn von sich.

      «Dieses Attentat hat sie alle getroffen. Die Kleine ist lahm, der Alte hat sich hier oben eingesperrt, und Hans …»

      Sie tippte sich an die Stirn.

      «Verrückt?», fragte Naomi.

      «Er sieht überall Gefahren. Er vertraut niemandem, selbst Prynne nicht.»

      Sie ließ sich wieder in den Sessel fallen.

      «Wir können es vorläufig ruhig angehen lassen. Solange die Prinzessin hier nicht schläft, brauchen wir ihr Bett auch nicht zu machen. Das Frühstück muss nicht weggeräumt werden, und das Zimmer kann durchaus mal ein paar Tage lang Staub ansetzen. Deine Badezimmer kommen auch eine Weile ohne deinen Putzeifer aus. Genieße die Ruhe, denn sie wird nicht lange dauern. Prynne wird bald mit einem angepassten Arbeitsplan ankommen.»

      Prynnes neu zu vergebende Aufgaben blieben jedoch aus, Betty blieb krank, und die Prinzessin, wie Anika sie nannte, kehrte nicht aus dem Krankenhaus zurück. Ihnen blieb also wenig zu tun. Anika hatte damit kein Problem.


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