Babel. Jan de Leeuw
in eines der Gästezimmer und bleib dort. Los, wir können hier keinen zusätzlichen Trubel gebrauchen!»
Auf der anderen Seite des Schwimmbeckens hämmerte der Mann auf die breite Brust seines Kollegen. «Leonard! Leonard!», schrie er wieder und wieder. Naomi sah noch, wie die Lippen des einen Mannes die kalten Lippen des anderen fanden, dann wurde sie von Prynne aus der Schwimmhalle geschoben.
Sie stieg gerade aus ihrem nassen Rock, als Hans ins Zimmer trat. Schnell zog sie ein Bettlaken über sich.
«Du hast nichts gesehen und nichts gehört. Was du gerade gesehen hast, ist nicht passiert. Verstanden?»
«Lebt sie noch?»
«So besorgt um deine Arbeitgeberin. Das ehrt dich. Und was dich auch ziert, ist dieses Laken. Ich an deiner Stelle würde es nicht zu eng an mich ziehen. Dein nasser Leib lässt nicht mehr viel Platz für die Fantasie. Männer mit weniger Selbstdisziplin könnten dadurch auf dumme Gedanken kommen.»
Er kam auf sie zu. Sie schrak zurück, rutschte an der Wand entlang, bis ihr ein Schränkchen den Weg versperrte. Mit ihrer freien Hand ergriff sie einen Kerzenleuchter.
«Was hast du vor? Du wirst doch nicht den Wachdienst von Babel angreifen, Mädchen?»
«Hans!»
Frau Prynne stand in der Türöffnung.
«Was ist hier los?»
«Ich habe der neuen Putzhilfe gerade erzählt, dass sie besser nicht herumposaunt, was sie gesehen hat. Aus Sicherheitsgründen», sagte Hans.
«Der Putzdienst fällt unter meine Verantwortung. Deine Verantwortung ist es zu überprüfen, warum es so lange dauern musste, bis Hilfe aufgetaucht ist. Es gibt doch keinen faulen Apfel im Korb, Hans?»
«Ich habe die Männer des Wachdienstes eigenhändig ausgesucht und ausgebildet, Hilda.»
«Dann bleibt mir nur der Schluss, dass es irgendwo an der Auswahl oder Ausbildung hapert, Hans.»
Er wollte etwas sagen, verkniff es sich dann aber, knallte die Hacken zusammen, verbeugte sich andeutungsweise vor Naomi und Prynne und verließ das Zimmer.
Die Frauen schauten ihm kurz hinterher. Naomi stellte den Leuchter zurück auf einen Beistelltisch.
«Ist alles in Ordnung, Frau Prynne?», fragte sie. «Lebt sie noch?»
«Fräulein Alice lebt noch. Sie wird jetzt für weitere Untersuchungen ins Krankenhaus gebracht. Hans hat recht: Es ist besser, wenn möglichst wenig Leute wissen, dass sie nicht im Turm ist. Wir können sie im Krankenhaus nicht so gründlich bewachen wie hier, und wir wollen niemanden auf dumme Gedanken bringen.»
«Ich habe nichts gesehen», sagte Naomi.
«Sehr gut», sagte Frau Prynne. «Du lernst schnell. Ich freue mich, dass ich auf deine Diskretion zählen kann. Was hältst du davon, nach der Vertretung hier in der Logistik zu arbeiten? Jemand mit deinen Qualitäten und schnellen Reaktionen ist auf Sub-Niveau nicht an seinem Platz. Ich denke, du hast da unten schon alles gelernt, was es zu lernen gibt, und gehe davon aus, du wirst nicht traurig sein, die nassen Matratzen und Lisbeths hinter dir zu lassen. Was? Guck nicht so erstaunt. Glaubst du, ich weiß nicht, was sich in den Schlafsälen abspielt? Nicht dass es mich irgendwie kümmert, solange die Arbeit nicht darunter leidet.»
«Vielen Dank», sagte Naomi.
Das Fenster des Gästezimmers bebte. Ein Helikopter flog vorbei. Sie schauten der Maschine nach, bis sie über die Spitzen des Wolkenkratzers hinweg verschwand.
«Ich schicke Anika mit trockenen Sachen», sagte Prynne dann und verließ den Raum.
Naomi schaute noch immer durchs Fenster, als eine junge Frau mit einem Stapel trockener Kleidung hereinkam.
«Naomi?»
Naomi nickte.
«Ich bin Anika.»
«Du hast große Ähnlichkeit mit …»
«Betty, ich weiß. Zwiddeldum und Zwiddeldei nennt uns Fräulein Alice. Wir sind allerdings nicht miteinander verwandt. Wenn man uns zusammen sieht, bemerkt man schon den Unterschied. Betty ist die Bitch.»
Sie warf die Anziehsachen auf einen Sessel.
«Prynne sagt, heute wäre dein erster Tag hier. Das ist schon was, nicht?» Anika deutete auf die atemberaubende Aussicht vom Gästezimmer, auf das spiegelglatte Parkett, in dem sich die weißledernen Sessel, die Kunstwerke und der enorme Kronleuchter widerspiegelten.
«Ja», sagte Naomi. Sie ließ das Bettlaken fallen und zog die trockenen Sachen an.
«Ich vermute, du hast Hans schon kennengelernt? Mach dir keine Illusionen. Falls er dir irgendwas versprochen hat …»
«Das hat er nicht», sagte Naomi.
«Gut. Babel mag keine Techtelmechtel unter dem Personal. Hans wird seinen Job so schnell nicht verlieren, aber dich», sagte Anika, bevor sie das Zimmer verließ, «dich haben sie sofort ersetzt.»
Naomi sah sich in einem der Spiegel. Ihr nasser Zopf tropfte noch nach auf ihr Shirt. Das A brannte auf ihrer Brust.
Abends wartete Lisbeth schon auf sie.
«Na, wie war’s?»
«Arbeit», sagte Naomi.
«Los, erzähl!»
Auch die anderen Mädchen starrten Naomi an, als wäre sie gerade aus dem Himmel herabgestiegen.
«Ich habe Badezimmer geputzt. Mehr nicht.»
«Du musst doch etwas gesehen haben?»
«Lass sie doch, Lisbeth. Verstehst du denn nicht? Seit sie eine A ist, sind wir ihr doch zu gering.»
Aber Lisbeth gab nicht auf.
«Hast du Babel gesehen? Oder Lichtenstern?»
«Ich habe niemanden gesehen», sagte Naomi.
Mit dem Fortschreiten des Abends sickerten die ersten Gerüchte in den Schlafsaal. Irgendetwas war in den Räumen von Alice Babel geschehen. Was, das wusste niemand so genau, aber die plötzliche Hektik verriet, dass es etwas Ungewöhnliches gewesen sein musste, und die mürrischen Mienen der Sicherheitsleute verstärkten die Vermutungen.
Prynne, die sich noch am selben Abend im Schlafsaal zeigte, wurde entsprechend mit Fragen bestürmt. Die neugierigen Reinigungsfrauen tanzten um sie herum. Prynnes Zunge, schärfer als ein Stachel, teilte gnadenlos aus. Nein, Herr Babel habe keine Herzattacke erlitten. Wie kamen sie bloß auf diesen Unsinn? Herr Babel sei gesund und wohlauf. Sie überzeugte niemanden, und als sie weg war, überschlug sich die kollektive Fantasie. Babel sei tot, aber das werde aus finanziellen Erwägungen noch geheim gehalten. Alice Babel habe sich in einen ihrer Physiotherapeuten verliebt und angekündigt, ihn heiraten zu wollen. Daher der Herzanfall des alten Mannes. Einer der Wachleute sei Mitglied einer Terrororganisation, und ein Mordversuch sei in letzter Sekunde vereitelt worden. Die Krankheit von Alices Hauslehrerin sei kein Zufall. In der Fassade der Räumlichkeiten seien Risse aufgetaucht. Das ganze Gebäude befinde sich kurz vor dem Einsturz und bedrohe die Stadt.
Naomi wurde von den anderen Subs belagert. Sie kam von oben. Sie musste doch wissen, was los war.
«Ich habe nichts gesehen», sagte sie noch im Bett, aber ihr glaubte man ebenso wenig wie Prynne.
«Vielleicht hat es etwas mit ihr zu tun», sagte Deborah. «Es kann doch kein Zufall sein, dass gleich am ersten Tag, wenn sie dort arbeitet, alles Mögliche schiefläuft. Vielleicht hat sie den alten Babel ja umgebracht.»
«Glaubst du wirklich, sie wäre noch hier, wenn sie irgendwas ausgefressen hätte?», fragte Christel.
Das stimmte. Aber trotzdem. Deborah hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, dass Naomi etwas mit den Schockwellen zu tun hatte, die das Gebäude durchzuckten, und war wenig geneigt, diese Ansicht so bald aufzugeben.
«Falls