Babel. Jan de Leeuw

Babel - Jan de Leeuw


Скачать книгу
der Wand hing.

      «Wo sind wir jetzt?», fragte Naomi.

      «Hier.» Frau Prynne bohrte ihren spitzen Fingernagel in eines der kleinen Quadrate auf dem Plan.

      «Ist dieses Apartment so groß, dass es einen Plan dafür braucht?»

      Die kalten Lippen von Frau Prynne kräuselten sich zu einem Lächeln.

      «Komm», sagte sie bloß, und wieder folgte Naomi ihr wie ein Hündchen. Etwa dreißig Meter weiter stieß Frau Prynne eine Tür auf.

      «Nach dir.»

      Naomi lugte in das Zimmer. Das Flurlicht drang lediglich einige Meter in den Raum hinein, und das Einzige, was Naomi dort sehen konnte, war ihr eigener zögerlicher Schatten auf den kleinen blauen Fliesen zu ihren Füßen.

      «Los, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.»

      Was war das für ein Geruch? Ihre Hände suchten vergeblich nach einem Lichtschalter.

      Prynne klatschte in die Hände, und das Licht sprang an.

      «Oh», sagte Naomi.

      «Olympische Dimensionen natürlich», sagte Frau Prynne. «Nicht, dass hier jemals Wettkämpfe stattfinden würden, aber auch hier gilt das Prinzip: Wenn schon, dann lieber gleich anständig.»

      Naomi erkannte den Geruch von Chlor. Sie stand am Rand eines immensen Schwimmbeckens. Sie schaute zu Frau Prynne, die sich keine Mühe gab zu verbergen, wie sehr sie Naomis Verwunderung genoss.

      «Was willst du wissen? Wieso eine Schwimmhalle von diesen Ausmaßen wie selbstverständlich an der Spitze des höchsten Gebäudes der Welt zu finden ist? Ganz simpel, Mädchen. Mit Geld kann man alles. Hast du irgendeine Vorstellung, wie viel diese abertausend Liter Wasser wiegen?»

      Naomi ging um das Schwimmbecken herum. Bei jedem Schritt, den sie machte, leuchteten nicht nur an den Wänden, sondern auch unten im Wasser Lichtspots auf. Der Boden war mit goldenen Mosaiken ausgelegt. Durch die Lichtwellen hindurch sah sie, wie schwarze Wale Schiffe verschlangen, und ein hölzernes Hausboot, durch dessen Dach Elefantenrüssel und Giraffenhälse ragten.

      Noch außergewöhnlicher als die Ausmaße war die Leere der Schwimmhalle. Keine halbstarken Jungs, keine schreienden Babys und keine alten Frauen mit beblümten, an verdorrte Brautsträuße erinnernden Badekappen, wie sie jedes Schwimmbad bevölkerten. Hier war alles Ruhe, Luxus und Überfluss.

      Naomi tauchte ihre Hand in das Wasser. Lichtkräusel wogten über die Wände. Wie wunderbar musste es sein, sich hier hineingleiten zu lassen, nicht in ein Wasser, das an diesem Tag schon von Hunderten anderen benutzt worden war, sondern in ein jungfräuliches Nass, über dem einem nahezu sichtbaren Jungfernhäutchen gleich die Stille schwebte.

      «Du putzt das hier, sobald du mit den Badezimmern fertig bist. Schau auf den Zeitplan. Du beginnst keine Minute früher und keine Minute später, verstanden?»

      Naomi nickte. Sie gingen zurück in den Flur.

      Frau Prynne klatschte zweimal in die Hände, und alle Lichter gingen aus.

      Naomis erste Aufgabe war das Putzen der Bäder in den Gästezimmern. Jedes einzelne davon war größer als der Schlafsaal der Subs. Goldgerahmte Spiegel zierten die Marmorwände. Die Schränke waren aus unbekannten Holzarten gefertigt, die Handtücher so dick und weich, dass man darin versank. Die Badewanne war eine Riesenmuschel aus Marmor.

      «Du hast genau achtzig Minuten pro Badezimmer. Es sind insgesamt fünf, also du weißt, was du zu tun hast. Wenn du fertig bist, gehst du zur Schwimmhalle. Die brauchst du heute lediglich zu wischen. Du hast eine halbe Stunde, was mehr als ausreichend ist. Wenn du fertig bist, verstaust du die Putzsachen und kehrst zum Aufzug zurück. Hans wird Schwierigkeiten machen, dich zuletzt aber doch hinauslassen. Morgen früh wartest du um halb neun unten bei den Aufzügen auf die A-Mannschaft. Sie werden dich mit nach oben nehmen. Hast du noch Fragen? Dann steh nicht herum wie ein Ölgötze, sondern fang an!»

      Nichts war schmutzig. Da war nicht ein Fleck auf den Spiegeln, nicht ein Streifen in den Waschbecken. Naomi legte sich auf den Boden des Badezimmers, presste eine Wange auf die Fliesen, sodass sie jede Unebenheit auf dem Fußboden bemerkt hätte, und immer noch sah sie nirgendwo eine Fluse oder ein Stäubchen.

      Sie knotete ihre Schuhe auf und kroch barfuß in die Riesenmuschel. Der Marmor fühlte sich kühl an. Sie schrubbte, nicht weil sie plötzlich von Menschen hinterlassene Spuren gefunden hätte, sondern weil sie davon ausging, dass Prynne sie kontrollieren würde. Ihr wurde heiß. Sie zog ihr Shirt aus und hängte es auf einen Handtuchhalter. Nach einer halben Stunde war sie mit dem Badezimmer fertig. Fünfzig Minuten zu früh.

      Sie betrachtete sich im Spiegel. Sie zog die Lippen hoch, klapperte mit den Zähnen und bedachte sich selbst mit einem Augenzwinkern. Naomi. Mitten im Turm von Babel.

      Im Spiegel sah sie, wie sich die Türklinke bewegte. Die Tür ging auf. Es war nicht Prynne.

      «Warum solche Angst?»

      Lichtenstern glitt ins Zimmer, setzte sich auf die Marmorplatte des Waschtischs und besah sich im Spiegel.

      «Ich bin ordentlich rasiert. Von meinen Zähnen tropft kein Blut. Ich sehe nicht ein, weshalb du dich erschrecken solltest.»

      Er musterte sich weiter im Spiegel.

      «Oder ist dieser Anzug zu förmlich? Besonders, wenn ich sehe, wie bequem du gekleidet bist.»

      Über seine Schulter hinweg sah sie sich selbst im Spiegel, ohne Shirt, nur mit BH. Sie legte die Hand über ihre Brüste.

      «Komm, nicht so bescheiden. Wie heißt es in der Bibel? Ein Mensch darf seine Talente nicht begraben.»

      «Was kann ich für Sie tun, Herr Lichtenstern?»

      «Setz dich. Du machst mich nervös mit diesem Blick wie von einem in die Enge getriebenen Stück Wild. Ich tue dir nichts. Ich brauche eine Frau nicht zu zwingen. Die Arbeitnehmerinnen von Babel stehen Schlange, um mir jede Annehmlichkeit zu bieten.»

      «Dann würde ich sie nicht länger warten lassen», sagte Naomi.

      Seine Augenbraue wanderte in die Höhe.

      «Möchtest du denn nicht von dieser einmaligen Gelegenheit profitieren? Du brauchst keine Angst zu haben, Prynne könnte hier jeden Moment eindringen. Wir werden von niemandem gestört werden. Du kannst so laut schreien, wie du willst.»

      Er fuhr sich mit beiden Zeigefingern über die Lippen.

      «Nicht zu trocken. Nicht zu feucht. Genau richtig.»

      Er drehte sich vom Spiegel weg und schaute sie an. Den einen Arm noch immer vor ihren Brüsten, machte sie einen Schritt zurück, bis ihr Rücken die Badezimmerwand berührte. Mit ihrer freien Hand griff sie nach der Handbrause.

      «Was hast du vor? Mich nass sprühen, bis ich schmelze?»

      «Ich muss weiter mit meiner Arbeit, Herr Lichtenstern.»

      Er kam auf sie zu. Der Duschkopf in ihrer Hand zitterte.

      «Findest du mich denn nicht anziehend, Naomi? Nein? Du brichst mir das Herz.»

      Er grinste.

      «Etwas mehr Dankbarkeit hatte ich schon erwartet. Ohne mich wärst du gar nicht hier! Zugegeben, dieser Putzjob ist nur vorübergehend, aber wenn du freundlich zu mir bist, könnte ich für eine dauerhafte Beförderung sorgen. Nicht sofort als A natürlich. Aber alles ist besser, als eine Sub zu bleiben, nicht?»

      «Mir gefällt es dort ausgezeichnet», sagte Naomi.

      «Findest du mich so abstoßend? Was für ein Schlag für mein Ego! Oder willst du irgendeinem pickligen Teenager treu bleiben, der draußen auf dich wartet? Nein, da ist niemand, ich spüre es. Magst du keine Männer, Naomi? Hast du andere Interessen? Ich denke nicht. Aber du hast Angst vor uns. Warum? Schlechte Erfahrungen?»

      Er stand jetzt am Rand der Badewannenmuschel.

      «Ich könnte


Скачать книгу