Babel. Jan de Leeuw
«Deswegen sind wir nicht hier.»
«Es tut mir leid», sagte Naomi, «aber er ist wirklich über die Hecke gesprungen. Weshalb sollte ich Sie anlügen?»
Die Männer tauschten einen Blick.
«Wo genau ist er denn rübergesprungen?»
Sie zeigte auf eine Senkung in der Hecke.
Der Jüngere tippte sich an die Mütze und rannte los. Der Ältere schaute sich noch einige Male um und folgte ihm dann.
Sie setzte sich wieder, nahm die Tüte mit Kirschen auf den Schoß und angelte sich seelenruhig eine heraus.
«Sind sie weg?»
«Sie sind auf die andere Straßenseite.»
«Danke.»
Sie hörte ein Rascheln. Dann saß er neben ihr.
«Naomi, nicht wahr?»
«Ja.»
«Ich bin’s, Aziz.»
«Ich weiß, wer du bist», sagte sie und hielt ihm die Tüte hin.
«Vielen Dank.» Er nahm sich eine Faust voll Kirschen.
«Dann weißt du auch, warum ich abgehauen bin.»
«Ja», sagte sie.
«Und du bist nicht angeekelt von mir?»
«Es geht mich nichts an.»
«Erst ging es ja auch nur mich etwas an. Und dann plötzlich alle.»
«Nimm die ganze Tüte», sagte Naomi. «Ich habe genug.»
«Willst du nicht aus einer Tüte mit mir essen? Angst, ich könnte dich anstecken?»
Sie musterte ihn kurz, pflückte sich eine Kirsche, die zwischen seinen Fingern baumelte, und steckte sie sich in den Mund.
«Entschuldige. Du hast mir vorhin geholfen, also müsste ich es eigentlich besser wissen. Aber auf die Dauer … Du bist immer anders gewesen als die anderen, Naomi. Still. Man konnte merken, dass du deinen eigenen Gedanken folgtest. Du bist keine Mitläuferin. Nicht wie …»
«Meine Mutter?»
«Ich habe es gehört.»
«Die ganze Welt hat es gehört.»
«Entschuldige.»
Naomi zuckte mit den Schultern. Er zeigte auf ihr Shirt.
«Jetzt arbeitest du bei Babel.»
Sie zog ihre Jacke zu.
«Schon gut. Ich brauche nichts zu wissen. Ich habe andere Dinge um die Ohren.»
«Warum waren sie hinter dir her?»
Der Junge zog eine Jeanshose unter seinem Pulli hervor.
«Geklaut?»
«Ja, ich bin ein Dieb geworden. Warum nicht? Der Mensch muss leben, und Klauen ist die geringste meiner Sünden. Du bist nicht schockiert?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Lass mich raten: Es geht dich nichts an.»
Sie lächelte.
«Was für eine interessante Art, das Leben zu betrachten. Hätte ich das früher gewusst, dann hätte ich dir mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Aus uns hätte ein schönes Paar werden können.»
Sie runzelte die Stirn.
«Nein? Nein, du hast recht. Es hätte nicht funktioniert. Obwohl ich den Eindruck hatte, dass du nichts lieber wolltest, als den ganzen Kram hinter dir zu lassen.»
Er spuckte die Kerne vor sich aus.
«Hörst du manchmal noch etwas von ihnen?», fragte er, als die Tüte fast leer war. «Von der Familie? Meiner Mutter?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Nichts? Niemand?»
«Und du?», fragte sie.
«Ich? Für sie bin ich tot. Und wenn ich so dumm wäre, zu ihnen zurückzugehen, dann würden sie dafür sorgen, dass ich echt draufgehe.»
«Das würden sie nie tun.»
«Egal. Ich habe jetzt ein neues Leben. Ich bin frei. Werde geliebt. Ja, ich, der dumme Aziz, werde geliebt. Wer hätte das gedacht?»
«Schön für dich.»
Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf die Wange, noch bevor sie sich wegdrehen konnte.
«Kann ich irgendwas für dich tun? Gibt es etwas, das ich für dich stehlen kann?»
«Nein, vielen Dank.»
«Weißt du …»
Er riss ein Stück von der Tüte und schrieb mit Kirschsaft eine Adresse darauf.
«Hier. Falls du mich mal brauchst, oder …» Er zögerte. «Falls du irgendwas von meiner Mutter hören solltest. Man weiß ja nie. Dann gib mir Bescheid. Danke für die Kirschen.»
Er rannte davon.
Sie wartete nicht auf den Schatten des Turms, bevor sie den Park verließ.
Naomi arbeitete schon lange genug in Babel, um gleich beim Aufwachen zu wissen, dass etwas Ungewöhnliches in der Luft hing. An anderen Tagen stolperten alle gleichzeitig zu den Waschräumen, aber diesmal blieben die Mädchen in ihren Betten liegen. Lisbeth, die halb betäubt aus dem Bett gekrochen war, blieb mitten im Saal stehen und blickte um sich. Warum folgten die anderen Subs nicht?
Naomi schaute zu Deborah. Die war zu still, zu achtlos.
«Maria, was tust du, wenn du deine Familie vermisst?», fragte Deborah.
«Dann frage ich Prynne, ob ich sie anrufen darf.»
«Und du, Naomi, was tust du?»
Deborah sagte nicht «Neue», sondern «Naomi.» Zu freundlich.
Naomi warf die Bettdecke von sich ab.
«Ich kann mich erinnern, wie schwer ich es hatte, als ich gerade hier anfing», sagte Deborah zu niemanden im Besonderen. «Ich vermisste meine Familie enorm. Manchmal hatte ich Angst, ich könnte vergessen, wie sie aussahen. Zum Glück hatte ich Fotos von ihnen. Fotos können eine enorme Stütze sein, nicht wahr, Naomi?»
«Vielleicht», sagte Naomi.
«Natürlich hast du als Waise solche Probleme nicht. Du brauchst keine Fotos mit dir herumzuschleppen, denn sie sind ohnehin alle tot. Du bist eine der Glücklichen, hab’ ich recht, Naomi?»
«Glücklich genug, keine Zeit mit offenbar endlosen Grübeleien zu verlieren.»
Sie ging an Lisbeth vorbei, die aus Angst vor dem, was kommen würde, noch wie erstarrt im Schlafsaal stand.
«So glücklich, nicht abhängig von Fotos wie diesem zu sein», sagte Deborah.
Naomi drehte sich um. Deborah hatte ein Foto in der Hand.
«Das habe ich in deinem Koffer gefunden. Im Futter versteckt. Vermutlich von einem früheren Besitzer des Koffers. Oder bedeutet dieses Foto dir etwas, Naomi?»
Deborah hielt das Foto in die Höhe und zeigte es den anderen Mädchen. Auf ihm war eine junge Frau zu sehen, die Haare unter einem stramm über die Stirn gebundenen Schal verborgen. Sie hatte die Armen um die Schultern von zwei Mädchen gelegt. Das jüngere Mädchen, ein Kind noch, war etwas dunkler als die Frau, aber dennoch deutlich ihre Tochter. Das andere Mädchen war ungefähr zwölf Jahre alt. Sie war blass, so als sähe sie selten die Sonne. Mutter und jüngere Tochter lachten. Die ältere Tochter schaute ernst. Es war unverkennbar eine junge Naomi.
«Das ist doch kein Foto von deiner Familie, Naomi? Nein? Arme Naomi. Die, ohne es zu wissen, ein Foto von einer glücklichen Familie mit sich herumschleppt. Nun,