Babel. Jan de Leeuw

Babel - Jan de Leeuw


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dir, was du sagst», antwortete Frau Prynne.

      Lisbeth packte Naomi am Arm.

      «Das kann unmöglich dein Ernst sein. Wenn du die Tage nicht nimmst, dann …»

      Sie warf einen kurzen Blick zu Frau Prynne.

      «Natürlich ist es eine Riesen-Ehre, hier zu arbeiten, aber manchmal muss man mal raus, und wäre es nur, um frische Luft zu schnappen oder seine Freunde zu sehen.»

      «Das ist nicht nötig», sagte Naomi.

      «Wenn du deine freien Tage hergibst, sitzt du ununterbrochen in den Kellern, ohne jemals die Sonne zu sehen.»

      «Ich brauche keine Sonne.»

      «Du nimmst deine freien Tage, genau wie alle anderen», sagte Frau Prynne. «Ich will nicht, dass jemand behauptet, wir würden unser Personal ausbeuten. Wenn du keine Nachmittage wählst, Naomi, dann wähle ich sie für dich.»

      «Vielen Dank», sagte Naomi.

      «Komm mit, dann zeige ich dir, wo das Material liegt und wie du mit den Putzmaschinen umgehen musst.»

      An diesem Nachmittag putzte sie zusammen mit Lisbeth und Maria und Rosario, zwei weiteren Subs, die zwölf Dienstaufzüge. Im Gegensatz zu den Fahrstühlen, die die Besucher und die Bewohner benutzten, fuhren diese Aufzüge bis in die Keller des Turms hinab. Sie mussten sich beeilen, denn jeder Lift stand nur zehn Minuten still.

      «Du brauchst keine Angst zu haben, dass wir plötzlich nach oben rauschen», sagte Lisbeth, als sie sah, dass Naomi, den Lappen in der Hand, bei einer Tastatur zögerte. «Alles wird von der Überwachung kontrolliert. Es ist egal, worauf wir drücken. Die Dinger fahren erst wieder, wenn die da oben es wollen.» Sie zeigte auf eine Kamera in der Ecke des Aufzugs. «Glaubst du mir nicht? In welches Stockwerk würdest du wollen?»

      «Keine Ahnung.»

      «Nein? Immer, wenn ich die Aufzüge putze, frage ich mich, wo ich wohl herauskommen würde, falls ich zufällig doch nach oben fahren würde. Ob ich wohl in einer Botschaft oder im Palast von einem dieser Ölscheichs lande? Oder vielleicht im Stadtmuseum?»

      «Ein Museum? Hier im Turm?»

      «Das hier ist nicht einfach irgendein Gebäude, Naomi! Es ist eine vertikale Stadt. Eine, aus der jeglicher Unrat ferngehalten wird. Hier findest du keine Besoffenen, die dich belästigen oder bespucken. Hier gibt es keine Staus oder Streitigkeiten oder offenen Geschwüre, sondern nur hübsche Menschen. Alle riechen hier nach Parfüm und Aftershave und Geld.» Lisbeth seufzte. «Am liebsten würde ich in den dreihundertfünfundfünfzigsten wollen.»

      «Was gibt es da zu sehen?»

      «Das City View Restaurant! Das höchste Restaurant der Welt. Es hat eine unvergessliche Aussicht, heißt es.»

      «Du bist noch nie dagewesen?»

      «Bei unserem Lohn?»

      Lisbeth tippte drei Zahlen ein.

      «Hier hat nicht jedes Stockwerk eine eigene Taste. Dreihundertdreißig Tasten, das wäre wohl etwas zu viel des Guten.»

      Auf dem Bildschirm neben der Tastatur erschien in großen, grünen Ziffern 325, doch der Aufzug blieb brav stehen.

      «Höher kann man nicht.»

      «Ich dachte, es gäbe dreihundertdreißig Stockwerke?»

      «Ja, aber dieser Aufzug geht nur bis zum dreihundertfünfundzwanzigsten. Wenn du noch höher willst, musst du in einen anderen Fahrstuhl umsteigen, der bis zu Babel hinaufführt, bis in den Himmel sozusagen. Aber in den steigt man nicht einfach so. Das geht nur mit Genehmigung.»

      «Wenn man eine A ist?»

      «Genau.»

      «Babel wohnt im höchsten Stockwerk?»

      «Ja, das weiß doch jeder.»

      «Und wer wohnt in den vier Stockwerken darunter?»

      «Seine Enkelin hat ihre eigenen Räumlichkeiten direkt unter seinen.»

      «Und der Rest? Wer wohnt da?»

      «Niemand.»

      «Bekommen sie die Apartments nicht vermietet?»

      «Bist du verrückt? Für die Apartments in Babel gibt es eine Warteliste von anderthalb Jahren. Du hast keine Ahnung, was die Leute dafür übrighaben, hier zu wohnen.»

      «Warum steht dann so viel leer?», fragte Naomi.

      «Herr Babel hat gern etwas Platz zwischen sich und den übrigen Bewohnern des Turms. Es ist eine Frage der Sicherheit. – Reine Wichtigtuerei, wenn du mich fragst», flüsterte Lisbeth. «Um zu zeigen, wie reich er ist.»

      «Als ob jemand das bezweifeln würde», sagte Naomi.

      «Du müsstest mal seine Räume sehen», sagte Lisbeth. «Überall Gold und Marmorbrunnen und Möbel, die aus alten Palästen zusammengeraubt sind, und die Flure vollgestopft mit teurer Kunst.»

      «Hast du das selbst gesehen?»

      «Pah!», kam es aus dem anderen Aufzug. «Lisbeth in Babels Räumlichkeiten? Glaub bloß nicht alles, was sie dir sagt, Neue. Sie redet einfach irgendwas daher. Nicht ein Sub kommt jemals da hinauf.»

      «Ach wirklich, Rosario?», rief Lisbeth zurück. «Und was ist mit Betty?» Sie wandte sich zu Naomi. «Betty ist eine Freundin von mir. Sie ist eine A.»

      «Wenn Betty wirklich eine A wäre, wie sie behauptet, warum isst sie dann noch unten im Speisesaal?», rief Rosario.

      «Weil sie noch in der Probezeit ist.»

      «Probezeit? Weißt du, was ich von deiner Probezeit und deiner Freundin denke?»

      Durch den Aufzug ging ein Ruck. Die Mädchen verstummten.

      «Die Überwachung wird ungeduldig», sagte Lisbeth. «Wir sollten uns beeilen.»

      Als sie mit den Aufzügen fertig waren, nahm Lisbeth Naomi mit zum Speisesaal. Naomi zögerte an der Tür, aber Lisbeth zog sie weiter.

      «Es sieht kompliziert aus, aber ich zeige dir, wie es geht.»

      Wie viele Menschen saßen hier an den niedrigen Tischen? Tausende? Die Stimmen, das Geschirr und scharrende Stühle machten einen solchen Lärm, dass Lisbeth Naomi anschreien musste.

      «Hast du besondere Essgewohnheiten?»

      «Was?», rief Naomi.

      «Gibt es Dinge, die du nicht essen magst oder darfst? Die Reihe da ist halal und dort in der anderen Ecke ist es koscher. Vernünftig, die beiden nicht zu nahe beieinander zu platzieren. Vegetarier und Veganer können links ihr Essen finden, und wenn du Laktose-, Gluten- oder Zuckerfreies suchst, musst du in die Allergiker-Ecke. Bist du gegen irgendwas allergisch?»

      «Nein.»

      «Keine religiösen Essenseinschränkungen?»

      Naomi schüttelte den Kopf.

      «Perfekt. Dann können wir uns bei der leckeren Reihe anstellen.»

      Alle Kontinente waren hier vertreten und sämtliche Hautschattierungen, von Honiggelb bis hin zu einem so tiefen Schwarz, dass das Licht sich darin spiegelte. Naomi sah Reihen glänzender Zähne, Berge von eingeöltem Haar, Wälder von Henna und Meere von Schleiern. An Halsketten baumelten Kruzifixe, Sicheln, Sterne, goldene Hände, steinerne Augen, Haifischzähne und astrologische Symbole. Tätowierungen schlängelten sich in Nacken und verschwanden unter Ärmeln. Sie schritt durch eine Wolke blumig duftender Französinnen und zwängte sich an Deutschen mit kräftigen Masseurarmen vorbei. Thailändische Mädchen, zerbrechlich wie Lilien, aber mit stählernen Augen, schirmten sie gegen einen von Männern besetzten Tisch ab, die ihr mit zugekniffenen Augen folgten. Mit ihren breiten Kiefern, kohlschwarzen Augen und dicken Schnurrbärten ähnelten die Männer einer Räuberbande aus dem Märchen.

      Als


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