Babel. Jan de Leeuw

Babel - Jan de Leeuw


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Prynne», sagte Naomi.

      «Dann bekommst du das Geld in einem Umschlag, bis du eins eröffnet hast. Wichtig ist, dir darüber klar zu sein, dass du in eine neue Familie aufgenommen bist, die für dich sorgt und die darauf achten wird, dass dir nichts zustößt. Im Tausch für diese Fürsorge erwartet Babel Loyalität.»

      «Loyalität?»

      «Treue, wenn du das Wort besser verstehst! Babel kommt an allererster Stelle. Er kommt vor deiner Mutter, vor deinem Gott und vor deinen Träumen. Wenn Babel etwas von dir will, dann gibst du ihm das. Verlangt er von dir zu springen, dann springst du, selbst wenn es vom Dach des Turms wäre. Und mit Babel meine ich nicht nur den Mann ganz oben an der Spitze. Wir alle sind Babel.» Sie zeigte auf den roten Buchstaben auf ihrer Bluse. «Ich bin Babel. Frau Hu ist Babel. Mach uns glücklich und du machst Abraham Babel glücklich. Aber wenn du uns unglücklich machst …»

      «Machen Sie der Kleinen keine Angst», sagte Frau Hu.

      «Sie soll wissen, woran sie hier ist. Sie ist kein Model auf einem Catwalk, sondern eine Putzhilfe.»

      Sie wandte sich wieder zu Naomi.

      «Du arbeitest schnell. Du stellst keine Fragen. Du schaust niemandem in die Augen. Du redest nicht. Du atmest nicht. Du bist unsichtbar, verstanden?»

      «Ja, Frau Prynne.»

      «Enttäusche mich nicht. Nicht wie deine Vorgängerin.»

      Naomi verkniff sich die Frage, was mit ihr geschehen war.

      Frau Hu zeigte ihr die Duschen und die Spinde. Naomis Spindnummer war 1014.

      «Arbeiten hier mehr als tausend Leute?»

      «Kind! Hier arbeiten Tau-sen-de von Menschen! Natürlich übernachtet das Personal aus den Büros und Geschäften nicht im Turm. Diese Ehre ist nur Babels direkten Arbeitnehmern vorbehalten.»

      Und sie musste diese Ehre mit jeder Menge anderer Menschen teilen, begriff Naomi, als sie ihren Schlafplatz sah. Dutzende von Betten waren in Reihen in einem großen unterirdischen Saal aufgestellt.

      «Schlafe ich hier?»

      «Du schläfst hinten, bei den anderen Subs», sagte Frau Hu. Sie gingen durch den Schlafsaal. Hier und da lagen Mädchen und Frauen auf ihren Betten. Manche schliefen oder lasen, andere schienen zu beten, starrten die Decke oder auch Naomi und Frau Hu an. Am Ende des Raums, abgesondert von den übrigen, standen zwölf Betten. Auf zwei davon lagen Mädchen. Frau Hu nickte ihnen zu, und beide nickten kurz zurück. Vor dem letzten Bett an der Wand blieben sie stehen.

      «1014», sagte Frau Hu. «Hier schlief deine Vorgängerin.»

      In einer Schublade unter ihrem Bett konnte Naomi ihren Koffer verstauen. Sie legte die Kleidung, die sie auf Anraten von Frau Hu mit hierher genommen hatte, auf das Bett.

      «Sonst musst du wieder den ganzen Weg zu den Spinden zurückgehen, um dich umzuziehen», sagte Frau Hu. «Hier hast du auch etwas mehr Privatsphäre.»

      Sie deutete auf einen Vorhang, der um das Bett gezogen werden konnte.

      «Frau Prynne kommt gleich, um dir deine ersten Aufgaben zu erläutern. Besser, du bist dann schon in Uniform.»

      Naomi nickte.

      «Neue Menschen, neue Regeln und neue Kleider. So ein erster Tag ist immer schwierig, aber das gibt sich. Am Anfang hast du vielleicht noch etwas Heimweh nach Hause …»

      «Ich habe kein Zuhause», sagte Naomi.

      Frau Hu sagte nicht «sehr gut». Sie lächelte betrübt und ließ Naomi hinten im Saal zurück.

      Kaum war Frau Hu fort, da wurde Naomi schon von dem Mädchen im Bett neben ihr angesprochen.

      «Du musst die Neue sein! Ich bin Lisbeth.»

      Mit ihren kurzen braunen Haaren wirkte sie zunächst wie sechzehn, aber der Blick in ihren kleinen Augen war älter. Wenn sie sprach, sah man eine Reihe kleiner, scharfer Zähne.

      «Das ging schnell. Issa ist noch keine Woche verschwunden, und schon hat man sie wieder ersetzt.»

      «Verschwunden?»

      «Ui, habe ich das gesagt?»

      Sie schaute zu dem Mädchen in dem anderen Bett, das sich schulterzuckend umdrehte und tat, als ob das Gespräch sie nicht interessierte.

      «Achte nicht auf Deborah. Sie ist müde.»

      «Müde von deinem Gelaber», maulte das Mädchen.

      «Kann ich dir helfen?», fragte Lisbeth und hob Naomis Koffer vom Bett. «Du hast nicht viel mitgebracht von zu Hause. Ach ja, stimmt auch, du kommst sicher aus dem Heim wie deine Vorgängerin. Das tut mir so furchtbar leid für dich.»

      «Nicht nötig», sagte Naomi. Sie nahm Lisbeth den Koffer aus der Hand und verstaute ihn in der Schublade unter dem Bett.

      «Ich darf gar nicht daran denken», sagte Lisbeth. «Natürlich hoffst du manchmal heimlich, deine Eltern wären nicht deine wirklichen Eltern, sondern eines Tages würde ein schickes Auto in deiner Straße halten, aus dem deine richtige Mutter gerannt kommt, um dich mitzunehmen in dein neues Leben. Sie war früher arm, aber jetzt ist sie reich und mächtig und bereut es, dass sie dich jemals weggegeben hat. Und du weißt endlich, wer deine Eltern sind.»

      «Ich kenne meine Eltern», sagte Naomi.

      «Ach», sagte Lisbeth. «Und wie bist du dann im Waisenhaus gelandet?»

      «Sie sind tot», sagte Naomi.

      «Lisbeth», rief das Mädchen in dem anderen Bett, «halt endlich den Schnabel!»

      Lisbeth redete auch dann noch weiter, als Naomi den Vorhang zuzog und in ihre neue Kleidung schlüpfte. Sie erzählte, wie sie spekuliert habe, wer wohl die Neue sei, aber dass sie nie so jemand Hübsches erwartet hätte. Fand Deborah nicht auch, dass die Neue hübsch sei? Natürlich sei Schönheit nicht immer ein Vorteil, erst recht nicht hier, in den Abgründen von Babel. Denn wenn die Männer einen einmal im Visier hätten … Tiere seien sie, die immer nur an das Eine dachten. Selbst sie, Lisbeth, habe Mühe, sie sich vom Leib zu halten, und sie sei ein anständiges Mädchen, das ihre Ware nicht so sehr feilbot, falls Naomi verstand, was sie meinte.

      Naomi kam hinter dem Vorhang hervor. Ihre Brüste passten perfekt in das graue Shirt. Der erste Anblick machte, dass Lisbeth ihr Lächeln entglitt.

      Ja, zu hübsch zu sein sei gefährlich. Die Mädchen seien nicht mehr an einer Hand abzuzählen, die, von ihrer Schönheit verraten, die Aufmerksamkeit eines der C-s oder B-s erregt und geglaubt hätten, auf diese Weise würden sie rasch befördert. Damit gewännen sie aber keinen Respekt. Sie würden benutzt und weggeworfen wie ein billiger Putzlappen. Das werde ihr nicht passieren. Sie riet Naomi, diesen Weg nicht einzuschlagen. Denn eine Frau, die gewarnt sei …

      Lisbeths Redefluss endete erst, als die Tür am anderen Ende des Saals aufging und Frau Prynne eintrat. Lisbeth war nicht die Einzige, die verstummte. Die meisten Frauen zogen rasch ein Bettlaken glatt, wischten sich die Krümel vom Shirt oder ordneten ihr Haar, als Prynne durch den Saal schritt. Bei Naomi, die neben dem Bett bereitstand, blieb sie stehen. «Ich habe mir den Stundenplan angeschaut», sagte sie, «und halte es für das Beste, wenn du vorläufig die Aufgaben deiner Vorgängerin übernimmst.»

      Sie zählte die Aufgaben auf. Naomi war zusammen mit einem Teil der anderen Subs für die Sauberkeit in den Schlafsälen, den Duschen und Toiletten sowie den Freizeiträumen und Dienstaufzügen zuständig. Gearbeitet wurde im Turnus. «Deine Kolleginnen werden dir erklären, wie das funktioniert.»

      «Ich helfe ihr gern», sagte Lisbeth.

      «Warum wundert mich das jetzt nicht?», sagte Frau Prynne. «Einen Tag in der Woche arbeitest du in der Wäscherei. Wie ich schon sagte, hast du zwei Nachmittage im Monat frei. Es wäre praktisch, wenn du mir möglichst schnell die gewünschten Tage durchgibst. Wann willst du nach draußen?»

      Naomi schüttelte den Kopf.


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