Babel. Jan de Leeuw

Babel - Jan de Leeuw


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Er ist ein berechnender und gnadenloser Mann. ‹Der mit den kalten Händen› wird er auch genannt.»

      «Solange ich die nicht zu spüren brauche, bin ich zufrieden», sagte Naomi und drehte sich weg von Lisbeth.

      «Du weißt nie, ob du sie nicht zu spüren bekommst», beeilte sich Lisbeth zu sagen. «Es heißt, er kommt manchmal hier herunter in die Schlafsäle. Er wartet, bis wir schlafen, und dann schleicht er sich ein. Kannst du dir vorstellen, wie es sich anfühlt, plötzlich seine kalten Hände auf deinem Körper zu spüren?»

      «Ich versuche mir lediglich vorzustellen, wie es sich anfühlt zu schlafen», sagte Naomi.

      Lisbeth schwieg.

      «Na ja», sagte sie eine Weile später, «Betty ist ihm einfach im Foyer in die Arme gelaufen. Niemand weiß, was sie gesagt hat, aber vom einen auf den anderen Tag war sie eine A. Es ging so schnell, dass sie nicht mal mehr Zeit hatte, sich von mir zu verabschieden. Das ist jetzt zwei Monate her. Ich war nicht beunruhigt, als ich nicht sofort etwas von ihr hörte. Sie braucht Zeit, um sich einzuarbeiten. Sie würde mich nicht vergessen. Nach heute bin ich mir da nicht mehr sicher. Was meinst du, wie lange muss ich noch warten?»

      Naomi antwortete nicht.

      Am nächsten Morgen erkämpfte sich Naomi im Dampfnebel einen Weg zwischen den halbnackten Frauen hindurch zu den Spiegeln in den Waschräumen. Sie sah die verschlafenen Gesichter, die wieder mühsam in Fasson gebracht wurden; Knitterleinwände, die als Untergrund für neue Gesichter mit volleren Lippen, einer glatteren Haut und dichteren Wimpern herhalten mussten. Haare in allen möglichen Farben, Längen und Formen fanden ihren Weg in die Abflusslöcher der Duschen, aus denen Naomi sie später herauszupfen durfte, um sie anschließend noch nass und klebrig in Plastiksäcke zu werfen, in denen auch Tampon-Verpackungen, leere Tuben, Kaugummi, Zahnseide, Deo-Sticks und Wattestäbchen landeten; die Überbleibsel der täglichen Schlacht gegen die Zeit.

      Auch im Speisesaal herrschte Betrieb. Die Männer waren mit dem Trimmen und Rasieren schneller fertig als die Frauen und saßen schon beim Kaffee. Manche hoben die Köpfe, als sie hereinkamen, anderen beugten sich über ihre Zeitungen, ihre Karten, ihre Gebetbücher oder ihren letzten Toast. An den Frauen, die trotz der Vorbereitungen in der Dusche den Schlendrian der Nacht noch nicht ganz von sich abgestreift hatten, schienen sie morgens weniger interessiert zu sein.

      Hier und da hatten sich Pärchen abgesondert. Manche passten vom Alter und der Hautfarbe gut zusammen, aber es gab auch weniger naheliegende Kombinationen. An dem Tisch, zu dem Lisbeth Naomi lotste, saß ein Mann mit einem riesigen gelben Turban und einem noch riesigeren schwarzen Bart. Seine Nachbarin war eine zierliche Asiatin. Die beiden schienen die Sprache des jeweils anderen kaum zu verstehen, doch das war nicht nötig; das Paar orientierte sich offensichtlich am Klang der Worte. Der Mann klang brüsk. Er schlug mit der Hand auf den Tisch. Die Frau nahm die Hand, drehte sie um und zeichnete etwas mit dem Finger auf seine Handfläche. War es eine Wegbeschreibung? Sie tippte auf ihre Armbanduhr und zeigte neun Finger. Er nickte und drückte ihre Hand an seine Lippen. Die weiße Hand verschwand fast in seinem schwarzen Barthaar.

      «Sie starren dich an.»

      «Wer?»

      «Wer?», wiederholte Lisbeth. «Die Männer im Saal, merkst du das denn nicht?»

      Naomi beugte sich über ihr Frühstück. Lisbeth besaß weniger Scheu und blickte schamlos um sich.

      «Diese ersten Tage sind wichtig, Naomi. Sie haben Frischfleisch gerochen. Erscheinst du jetzt zu entgegenkommend, werden sie dich fortwährend belästigen. Schau sie nicht an.»

      «Das tue ich nicht», sagte Naomi, «aber du.»

      «Ach, mich kennen sie, ich laufe keine Gefahr. Solange ich in deiner Nähe bin, werden sie dich in Ruhe lassen. Jedenfalls, solange du sie nicht irgendwie ermunterst.»

      «Ich ermuntere niemanden», sagte Naomi, «aber manche Leute drängen sich einem auf.»

      Lisbeth schien sich nicht an Naomis wortkargen Antworten zu stören. Sie hatte immer etwas zu erzählen. Es gab Lieblingsthemen wie ihre Familie in der Stadt und natürlich ihre Meinung über die anderen Mädchen. Oder wie großartig es sei, für Babel zu arbeiten. Das merke sie, wenn sie an ihren freien Tagen durch die Stadt ging. Es war dem Personal verboten, in Arbeitskleidung nach draußen zu gehen, aber manchmal vergesse sie das, besonders an heißen Tagen, wenn man in seinem Dienstshirt auf einer Bank sitzen und die Reaktionen der Passanten beobachten konnte, sobald deren Auge auf den gestickten Turm fiel. Man sehe zuerst das Erstaunen, dann die Erkenntnis, dass sie es mit einer von Babels Arbeitnehmerinnen zu tun hatten. Naomi habe ja keine Ahnung, wie viele Männer sich ihr, Lisbeth, schon aufdrängen wollten, nachdem sie den magischen Turm gesehen hätten. Nicht dass sie auf diese Avancen eingegangen wäre. Sie sei doch nicht verrückt. Sie würde sich nicht an Männer verschwenden, die genug Zeit hatten, ihre Nachmittage im Park zu verbringen.

      «Ich verstehe es nicht. Es ist doch nur ein Gebäude», sagte Naomi.

      Lisbeth erschrak und schaute in die Luft, als könnten sie jeden Moment vom Blitz getroffen werden.

      «Es ist nicht einfach nur ein Gebäude! Es ist eine Energie. Hast du das denn nicht gespürt, als du zum ersten Mal hier hereingekommen bist? Ich war so nervös, dass ich dachte, ich würde ohnmächtig werden.»

      Babel sei das Zentrum der Welt. Hier passiere es. Hier drängten sich die Filmstars, die Medaillengewinner und die Banker, um dazuzugehören. Hier werde über das Leben von Millionen Menschen entschieden. Jedes Wort, das ein Minister oder auch nur eine Sekretärin womöglich fallen ließ, könne das Ende einer Regierung oder das Aufblühen einer Volkswirtschaft bedeuten. Eine sich öffnende Tür, ein herumliegender Brief oder eine Begegnung in einem der Aufzüge könne die Weltkarte neu zeichnen. Lieber werde sie ihr Leben feudelnd und schrubbend in den Kellern von Babel verbringen, als irgendwo anders einen gut bezahlten Bürojob anzunehmen. Manchmal lege sie ihre Hand an die Wände, und dann fühle sie es durch das Gebäude rasen.

      «Was?»

      «Elektrizität. Die Fäden des Lebens, die flimmern, die singen, die nach oben fliegen und wie Schnüre in den Händen von Abraham Babel zusammenkommen.»

      «Du tust so, als wäre er ein Gott.»

      «Ja, aber das ist er auch.»

      «Ich habe einmal ein Foto von ihm gesehen», sagte Naomi. «Er ist nur ein alter Mann.»

      «Genau», sagte Lisbeth. «Ein alter Mann, der trotz der ganzen harten Arbeit, trotz der vielen Entscheidungen und Sitzungen und Attentate weiterlebt und weiterarbeitet. Was denkst du: Wie alt ist er?»

      «Siebzig?»

      «Pah! Eher hundert. Oder zweihundert. Niemand kennt sein wahres Alter. Niemand weiß, woher er kommt. Er ist ein Mysterium, ein Unsterblicher. Es ist nicht normal, dass ein Mann so viel Geld und Macht hat. Das bekommt man nicht einfach so. Er muss einen Pakt geschlossen haben mit …» Sie zeigte auf den Boden.

      «Was meinst du?»

      «… dem Teufel. Nein, Naomi, lach jetzt nicht. Es ist mein Ernst. Denk mal darüber nach. Wie sonst wird man so reich? Und jetzt läuft sein Vertrag bald aus. Darum ist Lichtenstern hier. Um ein Auge darauf zu haben, dass er nicht entwischt.»

      «Lichtenstern ist der Teufel? Und der läuft hier herum?»

      «Warte nur, bis du ihn siehst.»

      «Prynne ist mir schon Teufel genug. Wir sollten besser weiterarbeiten, wenn wir nicht wollen, dass sie uns demnächst im Nacken sitzt.»

      Neben dem Tratsch über Babel und die anderen Mädchen hatte Lisbeth ein unerschöpfliches Thema, und zwar, wie reich und erfolgreich sie später sein würde. Ihr jetziges Leben sei lediglich eine Probezeit. Irgendwann werde sie irgendwer aus diesem abstumpfenden Dasein pflücken. Einen Grund dafür, warum ausgerechnet sie und nicht eine der anderen Subs das verdient haben sollte, nannte sie nie. Nein, sie zweifle nicht daran, dass es so kommen werde. Sie kenne das Muster: Erst musste man wie ein modernes Aschenputtel in den Kellern arbeiten und die Demütigungen ertragen.


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