Babel. Jan de Leeuw

Babel - Jan de Leeuw


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bewegte sich nicht. Es war Lisbeth, die zum Erstaunen aller auf Deborah zulief.

      «Gib das Foto zurück, Deborah. Es gehört dir nicht.»

      «Sieh an! Der Hund bellt.»

      Die anderen Mädchen lachten.

      «Pfeif sie zurück, Naomi, oder das Foto geht in Flammen auf.»

      Alle schauten jetzt auf Naomi. Was würde sie tun? Ein Flämmchen flackerte über dem Feuerzeug, nah an einer Ecke des Fotos.

      «Eine kleine Entschuldigung genügt, Naomi. Mehr nicht. Dann bekommst du es zurück.»

      «Tu, was du nicht lassen kannst», sagte Naomi. Sie drehte sich um und ging zu den Duschen. Sie hatte den Saal noch nicht verlassen, da kroch ihr der Geruch von verbranntem Fotopapier schon in die Nase.

      Sie blieb länger als sonst unter der Dusche. Sie fühlte, wie ihr die Tropfen über die Wangen rannen.

      «Das zahlen wir ihr heim», sagte Lisbeth am Nachmittag, als sie die Aufzüge putzten, in sicherer Entfernung von Maria und Rosario, die mit den Aufzügen am anderen Ende des Flurs angefangen hatten.

      «Lass gut sein», sagte Naomi, «sie hat mir einen Dienst erwiesen.»

      Lisbeth schaute sie verwundert an.

      «Ist doch egal, ob sie dir damit einen Dienst erwiesen hat. Sie wollte dir wehtun.»

      «Ich kann ihr nicht immer mit Prynne drohen. Sie ist schlau genug, die Sachen, die sie uns gestohlen hat, nicht mehr in ihrem Spind aufzubewahren.»

      «Ich kann mit Betty reden.»

      «Mit Betty?»

      Es war das erste Mal seit dem Zwischenfall mit der Suppe, dass Lisbeth diesen Namen fallenließ.

      «Ja, sie ist wieder unten.»

      «Sie ist kein A mehr?»

      «Doch. Aber sie ist krank. Da oben ist eine Grippeepidemie ausgebrochen, und alle, die krank sind, werden sofort weggeschickt, damit sie den alten Mann und seine Enkelin nicht anstecken.»

      «Steht Immunität vor der Grippe denn nicht in seinem Pakt mit dem Teufel?»

      «Lach du nur; das kann unsere Chance sein, uns Betty zu nähern. Ihr Zimmer befindet sich in dem Stockwerk über uns. Wir können sie ganz einfach besuchen. Außer dem Arzt sieht sie nicht viele Leute. Sie hat sich nämlich nicht viele Freunde gemacht, seit sie eine A ist.»

      «Wie könnte sie uns denn helfen?»

      «Ein Wort von Lichtenstern zu Prynne, und Deborah wird entlassen.»

      «Du würdest so weit gehen?»

      «Du nicht? Auch nicht nach der Sache mit dem Foto?»

      «Wird Betty sich nicht wundern, wenn wir vorbeikommen?»

      «Sie wird sich über ein bekanntes Gesicht freuen.»

      «Ich bin kein bekanntes Gesicht.»

      «Wir sind ein Team», sagte Lisbeth und fasste Naomi am Arm. «Mitgefangen, mitgehangen.»

      «Es wäre einen Versuch wert», sagte Naomi. Vorsichtig zog sie ihren Arm zurück. In diesem Moment schoss der Fahrstuhl nach oben.

      «Merkwürdig», sagte Lisbeth. «Wir hatten noch ein paar Minuten.»

      «Wenn er weg ist, brauchen wir ihn auch nicht zu putzen», sagte Naomi. «Wenn wir uns ranhalten, ist dieser Aufzug in fünf Minuten fertig, und wir können zu Betty.»

      «Besser, wir bringen ihr etwas mit. Was hältst du von Weintrauben?»

      «Glaubst du, Weintrauben funktionieren noch bei einer, die den Luxus von Babel gewohnt ist?»

      «Was würdest du ihr mitbringen?»

      «Ein paar Modemagazine?»

      «Das ist eine bessere Idee. Ich freue mich, dass du jetzt hier arbeitest, Naomi. Ich habe das Gefühl, dass wir mehr als Freundinnen sind. Es ist, als wäre unser Schicksal miteinander verbunden, empfindest du das auch so? Wir werden große Dinge erleben, wenn wir zusammenbleiben.»

      In diesem Augenblick kam der Fahrstuhl wieder nach unten. Die Mädchen erschraken, als ein Mann ausstieg. Er trug einen grauen Anzug. Auf seinem blütenweißen Hemd war kein Buchstabe oder Turm auszumachen. Er war hübsch, selbst für babelsche Maßstäbe. Sein dickes schwarzes Haar hatte er nach hinten gekämmt. Die Nase war groß und streng, und seine Augen – zwei dunkle Pfuhle in einem bleichen Gesicht – waren unmöglich zu ignorieren. Sie sogen einen auf und ließen einen nicht los. Sie versengten einen. Als er Naomi von Kopf bis Fuß musterte, errötete sie bis in den Nacken.

      «Herr Lichtenstern!», rief Lisbeth und machte eine kleine Verbeugung. Maria und Rosario kamen angelaufen, um das Wunder mitanzusehen.

      «Wenn Sie Betty suchen», sagte Lisbeth, «die liegt auf minus vier. Ich kann Ihnen zeigen, wo es ist. Ich hatte gerade vor, sie zu besuchen.»

      «Weshalb sollte ich?», sagte Lichtenstern. Seine Stimme war tief und dunkel und wie ein anschmiegsames düsteres Tier.

      «Sie ist krank», sagte Maria gedankenlos.

      «In der Tat», sagte Lisbeth. «und Sie dürfen keine Ansteckung riskieren. Sehr vernünftig. Vielleicht sollte ich meinen Besuch auch noch etwas aufschieben.»

      Lichtenstern schaute sie an, als fragte er sich, wer sich wohl darum scheren mochte, ob dieses Mädchen die Grippe bekam oder nicht.

      «Ich suche einen zeitweiligen Ersatz für Betty», sagte er. «Normalerweise macht Prynne das, aber da ich ohnehin nach unten musste, schaue ich mich selbst einmal um.»

      «Tenga mi! Tenga mi!», rief Rosario, die vor Aufregung in ihre Muttersprache verfiel.

      Lichtensterns Blick glitt von ihrem begierigen Gesicht zu ihren Brüsten und zurück.

      «Vielleicht jemand, der eine verständliche Sprache spricht», sagte er.

      «Ich spreche!», sagte Maria.

      «Tja, leider», sagte Lisbeth, die zwischen Lichtenstern und Naomi glitt. «Als Bettys beste Freundin wäre es mir eine Ehre, für eine Weile ihre Tätigkeit zu übernehmen, Herr Lichtenstern.»

      Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. «Nach fünf Jahren in Babel habe ich genügend Erfahrung, um befriedigende Arbeit zu liefern.»

      Er schaute kurz auf die Hand und schüttelte diese dann von sich ab.

      «Du da!» Er zeigte auf Naomi. «Komm her.»

      «Sie ist noch neu, Herr Lichtenstern», sagte Lisbeth. «Sie weiß noch nicht richtig, wie es hier im Turm zugeht. Es mangelt ihr an der nötigen Erfahrung.»

      Lichtenstern ignorierte sie.

      «Wie heißt du?»

      «Naomi.»

      «Willst du nach oben, Naomi?»

      «Was soll ich da tun?»

      Er legte seinen Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf an, sodass sie in seine traurigen Augen schaute.

      «Pragmatisch, das liebe ich.»

      Sie senkte ihren Blick als Erste.

      «Such Prynne und sage ihr, dass du Betty ersetzt. Sie wird dir sagen, was du zu tun hast.»

      Er stieg in den Aufzug.

      «Meine Damen, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Arbeitstag.»

      Er lächelte, als ob er wüsste, dass er ihre gesamte Hoffnung auf ein besseres Leben mit sich nahm. Der Fahrstuhl schloss sich, und die Mädchen sahen sich in der Metalltür widergespiegelt, verzerrt mit langen Armen, kurzen Beinen und monströsen Köpfen. Lisbeth war die Erste, die sich umdrehte. Sie zwang sich zu einem Lächeln.

      «Das sind großartige Neuigkeiten,


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