Babel. Jan de Leeuw

Babel - Jan de Leeuw


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Dann können wir wieder zusammenarbeiten. Wäre das nicht großartig?»

      «Mitgefangen, mitgehangen», sagte Naomi.

      Lisbeth nickte.

      «Genau.»

      «Leider weiß ich noch nicht richtig, wie es hier im Turm so zugeht. Ich halte es für besser, du arbeitest mit einer Person zusammen, die mehr Erfahrung hat», sagte Naomi.

      «Das nimmst du mir doch nicht übel, Naomi, nach allem, was wir zusammen erlebt haben? Ich habe das nur gesagt, um dich zu beschützen. Wir sind doch Freundinnen!»

      Naomi entfernte sich. Maria und Rosario, noch im Schock, witterten ihre Chance, als sie merkten, dass Lisbeth allein zurückblieb. Es dauerte nicht lange, bis jemand Naomis Namen schrie. Naomi schaute sich nicht um.

      Der Fahrstuhl hielt im Erdgeschoss und verschluckte dort eine Gruppe von Touristen, die sich wenig um die missbilligenden Blicke von Frau Prynne kümmerten. Sie holten Bierdosen aus ihren Rucksäcken und tönten dann in irgendeiner osteuropäischen Sprache herum.

      «Abschaum», murmelte Frau Prynne.

      Naomi ignorierte die Touristen und starrte auf den Plasmabildschirm, der an der Fahrstuhlwand hing und in dem Frauen, die Hände voll mit Champagner und teuren Handtaschen, Männern mit perfekt rasierten Gesichtern, gekämmten Haaren, weißen Hemden, weißen Zähnen und einer weißen Haut zulächelten. Beide Arbeitnehmerinnen ignorierten den eindringlichen Geruch von Schweiß, Bier und Salami und holten erst wieder tief Luft, als der Aufzug im dreihundertfünfundzwanzigsten Stockwerk anhielt. Der Pulk ergoss sich hinaus und rannte johlend durch den Flur, prallte jedoch beim Eingang auf den «Maître d’» des City View Restaurants, der ihnen klarmachte, dass sie ohne Krawatte und mit Bierdosen nicht eingelassen würden. Die Gruppe hatte nicht vor, es dabei zu belassen, und umzingelte den Maître d’, der ruhig blieb und Prynne zunickte, als sie und Naomi vorbeigingen. Naomi schaute durch die Glastür ins Restaurant. Es war noch vor halb zehn Uhr morgens, und doch saßen schon jede Menge Leute an den Tischen, versteckt hinter Zeitungen oder gelangweilt in ihren Tassen rührend. Niemand schien sich für die unbezahlbare Aussicht zu interessieren. Sie selbst sah vom Flur aus auch nichts durch die Außenfenster, ausgenommen das strahlende Blau des Himmels. Ein Streifen tieferes Blau ließ das Meer erahnen, aber es konnte auch eine Verfärbung der Fenster sein. Viel Zeit bekam sie nicht, das Restaurant zu bestaunen. Sie bogen links in einen Flur ein, aus dem ihnen sechs Männer mit gezückten Schlagstöcken und einem C2 auf der Uniform entgegengelaufen kamen.

      «Bin gespannt, ob das Gesindel gleich auch noch so viel Spaß hat», sagte Prynne mit einem dünnen Lächeln. Sie bogen abermals nach links ab, bis sie vor einem zweiten Fahrstuhl standen.

      Prynne legte ihre Hand auf eine Metallplatte in der Wand, und der Lift öffnete sich. Danach tippte sie eine Zahlenkombination ein, und der Buchstabe A flackerte grünlich auf dem Bildschirm.

      «Gibt es keinen direkten Fahrstuhl von unten nach oben?», fragte Naomi.

      «Doch», sagte Prynne, «aber der ist exklusiv für Abraham Babel.»

      Auf dem kleinen Monitor folgten die Zahlen einander im Eiltempo: 326. 327. 328.

      «Wer wohnt auf diesen Etagen?»

      «Niemand.»

      «Niemand?»

      «Planst du, dich hier einzumieten?»

      Der Fahrstuhl stoppte. Die Türen öffneten sich von selbst, aber der Ausgang wurde von einem großen Spiegel blockiert. Naomi sah sich in der neuen Kleidung, die zu ihrem zeitweiligen A-Dienstrang gehörte. Sie trug einen schwarzen Rock bis genau über die Knie, weiße Socken und weiße Filzschuhe. Im Gegensatz zu Frau Prynne, einem Muster der Restaurierungskunst, trug sie kein Make-up. Ihr dickes schwarzes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, der neben ihrem Hals über das weiße Baumwollshirt fiel und das rote A auf ihrer rechten Brust fast bedeckte.

      Ihre Finger glitten kurz über dieses A. Frau Prynne hatte ihr klargemacht, dass sie sich keine Illusionen zu machen brauche. Sie sei lediglich eine Vertretung und tue gut daran zu begreifen, dass sie jeden Moment wieder bei ihren Sub-Kolleginnen landen konnte. Je weniger sie ihren zeitweiligen Status missbrauche, desto weniger Problemen sei sie ausgesetzt, wenn sie wieder zur Putzhilfe werde.

      Naomi hatte sich die Frage verkniffen, ob sie in ihrem zeitweiligen Status auch die Vorgesetzte von Frau Prynne mit «bloß» einem C war. Die A-s waren übrigens nicht der höchste Rang im Turm. Über ihnen standen unlogischerweise die B-s. Von B wie Babel. Nur sie gelangten in Abraham Babels Nähe.

      Sie merkte, dass Frau Prynne sie beobachtete, und zog ihre Hand zurück.

      «Knöpf dein Shirt zu.»

      Naomi tat, was ihr befohlen war.

      «Wie schade», tönte eine Stimme über ihnen. «Ich hätte gern etwas mehr gesehen.»

      «Lass uns herein, Hans», sagte Prynne. «Wir haben zu arbeiten.»

      Die Stimme fragte nach den Identifikationsdaten.

      «Du weißt, wer ich bin», sagte Prynne.

      «Das tut nichts zur Sache.»

      Prynne seufzte.

      «Bei jedem neuen Dienstmädchen immer dieselbe Routine. Du glaubst doch nicht, dass das sie beeindruckt, Hans? Diese Mädchen haben in ihrem kurzen Leben schon mehr gesehen und mehr ignoriert, als du ihnen bieten kannst.»

      «Die Identifikation bitte», sagte die Stimme.

      Prynne drückte ihre Hand auf die Metallplatte an der Spiegelwand. Ein grünes Licht leuchtete auf.

      «Jetzt unsere neue A», sagte die Stimme.

      Naomi folgte Prynnes Beispiel. Das Metall fühlte sich kalt an. Das Licht wurde rot.

      «Und jetzt?», sagte Prynne. «Soll ich hier bis ans Ende der Zeiten stehen bleiben?»

      «Keine Panik, Frau Prynne, das kann für Sie nicht mehr so lange dauern», sagte die Stimme.

      Der Spiegel schob sich zur Seite, und fünf Männer in schwarzen Maßanzügen kamen auf sie zu. Naomi wurde gebeten, die Arme in die Höhe zu strecken, und wurde dann professionell abgetastet. Frau Prynne tippte ungeduldig mit ihren manikürten Nägeln gegen die Fahrstuhlwand. Einer der Männer, blond und breit und mit einer von seiner linken Schläfe bis zu seinem Mundwinkel verlaufenden Narbe, drehte sich zu ihr um.

      «Sparen Sie sich dieses Gehabe, Frau Prynne. Ich tue meine Arbeit. Und Sie sollten das besser auch tun. Ich habe keine Formulare im Zusammenhang mit einer neuen Putzhilfe erhalten.»

      «Sie ist eine zeitweilige Vertretung. Sie kommt aus dem Waisenhaus. Sie wurde gründlich durchleuchtet. Sie ist clean.»

      «Behaupten Sie.»

      «Willst du lieber selbst die Zimmer putzen, Hans?»

      Sie starrten sich gegenseitig an.

      «Also gut. Heute kann sie so hinein, aber bis morgen will ich alle Papiere auf meinem Schreibtisch haben, sonst wandert sie zurück nach unten.»

      «Das werden wir ja sehen», sagte Prynne und schob Naomi weiter durch einen Metalldetektor und das Zimmer der Wachleute.

      Da ging sie also, hinein in das höchste, teuerste, exklusivste Apartment der Welt. Nicht, dass sie viel von dem Luxus bemerkt hätte, denn die Flure, durch die Prynne sie führte, waren für das Personal gedacht und nicht für die Bewohner. Die Flure waren zwar nicht kahl und giftgrün wie unten, sondern breit und warm mit indirekter Beleuchtung und Drucken an den Wänden – es waren immerhin die Räumlichkeiten Babels –, aber dennoch lediglich Flure, die genau wie die Wasserleitungen oder die Strom- und Glasfaserkabel hinter dem wirklichen Leben in den Apartments entlangführten.

      Prynne lotste sie in ein großes Zimmer, das nach Lavendel roch. Hier standen die Putzmittel, alle säuberlich angeordnet und etikettiert. Frau Prynne schnurrte die Etiketten herunter: B für Badezimmer, O für Orangerie, G2 für das zweite Gästezimmer, F3 für


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