Babel. Jan de Leeuw

Babel - Jan de Leeuw


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Alices Fußsohle, und das Blut färbte es sofort rot.

      «Es hört nicht auf!»

      Sie konnte Naomi beichten, dass sie ohnehin nichts davon spürte, dass sie es noch nicht einmal bemerken würde, wenn ihre Unterschenkel in Flammen stünden. Sie konnte Naomi beruhigen. Aber sie tat es nicht. Sie wusste selbst nicht, was in sie gefahren war.

      «Leck es auf», sagte sie.

      «Was?»

      «Das Blut. Leck es auf!», sagte sie.

      Nie im Leben würde sie erklären können, warum sie das verlangte. Warum wollte sie das Mädchen so demütigen? Was hatte die Kleine ihr angetan? Aber Naomi nahm ihren Fuß schon in beide Hände und ließ ohne Flehen oder sonstige Bemerkungen ihre Zunge über die Fußsohle gleiten.

      Ein Schock durchfuhr Alice. Es war ein elektrischer Strom, der ihr Rückgrat entlangschoss und kribbelnd bis hinauf in ihre Fingerspitzen, bis in die Dunkelheit unter ihrem Schädel, wo sie für einen Moment kleine Sterne davonsausen sah. Naomi leckte ihr Blut – Blut, das rote Flecken auf ihren Lippen und ihrem Kinn zurückließ, und einen Moment lang dachte sie, was für Krankheiten bekomme ich von diesem Speichel, nein, das dachte sie nicht, das dachte sie erst später, jetzt versuchte sie nur, nicht laut aufzuschreien.

      «Was ist denn das hier?»

      Bert und Leonard standen im Zimmer. Alice hatte sie noch nie so groß und blond gesehen. Zwei Racheengel.

      Naomi ließ ihren Fuß fallen. Die Männer starrten auf das Mädchen in ihrem BH, mit Blut auf den Lippen.

      «Wo ist Frau Holtby?», fragte Bert.

      «Die hat die Grippe», sagte Alice.

      Sie versuchte, gleichgültig dreinzuschauen, aber dieser elektrische Strom wogte noch nach. Als wäre sie bis ins Tiefste ihres Körpers berührt worden. Als hätte Naomis Gott ihr mit Seinem Finger die Eingeweide durchwühlt.

      «Ich habe gerade eine der Angestellten gebeten, mir aus dem Bett zu helfen, aber offenbar bluten meine Füße. Zum Glück seid ihr hier.»

      Sie bedachte das Mädchen mit einem kurzen Kopfnicken.

      «Das ist alles, Naomi. Du kannst gehen.»

      Das Mädchen hob den Schwamm vom Boden auf und huschte davon.

       Wer ist Abraham Babel?

      Woher kam Abraham Babel? Die offizielle Biografie erwähnte eine wenig auffällige Jugend in einem der Stadtviertel, in dem hauptsächlich Beamte und kleine Selbstständige wohnten. Als einziger Sohn von Rebecca und Ezra Babel trug Abraham Babel sämtliche elterlichen Erwartungen auf seinen zarten Schultern. Er hatte sich angestrengt in der Schule, musste dann aber aufgrund einer schleppenden Krankheit, die ihn von seinem siebzehnten bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr ans Bett gefesselt hielt, auf weiteren Unterricht leider verzichten. Diese drei Jahre der erzwungenen Ruhe hatten seine Gier nach dem Leben verschärft, und als er endlich genesen war, beschloss er, keine weitere Zeit auf der Schule zu vergeuden. Er ging arbeiten, zunächst als Verkäufer in einem Geschäft, das hauptsächlich Radios und später die erste Generation von Fernsehgeräten verkaufte. Von seinem ersten Geld kaufte er sich nicht – wie die anderen jungen Männer seiner Umgebung – einen imposanten Buick, sondern Aktien einer großen Elektronikfirma. Nach dem plötzlichen Tod seiner Eltern beschloss er, das elterliche Haus zu vermieten, und landete so fast zufällig im Immobiliensektor, dem er später einen Großteil seines Vermögens zu verdanken haben sollte. Mit dreißig besaß er nicht nur drei Mietshäuser, sondern auch ein interessantes Aktienportefeuille. Nicht schlecht für jemanden, der mit so wenig angefangen hatte. Ein anderer Mann hätte ruhig den einmal eingeschlagenen Weg weiterverfolgt, aber Babel verkaufte seine Häuser und nahm einen großen Kredit auf, um damit ein paar verfallene Gebäude in Hafennähe aufzukaufen. Irgendwann einmal war von einer Hafenerweiterung die Rede gewesen, aber die meisten Spekulanten, die für zu viel Geld die alten Fabriken und bodenverseuchten Grundstücke in der Hoffnung aufgekauft hatten, sich an dem Projekt zu bereichern, waren nach zwanzig Jahren das Warten leid und verkauften ihr wertloses Eigentum nur zu gern an Babel. Er selbst, so ließ er verlauten, habe vor, dort ein Wohnviertel zu errichten. Alle wünschten ihm viel Erfolg. Niemand glaubte an die Zukunft eines Viertels, das mitten im kriminellen Herzen dieser Stadt lag, aber niemand fühlte sich verpflichtet, diese Zweifel mit dem naiven Babel zu teilen. Noch bevor die Vorbereitungen für das Wohnviertel starteten, beschloss ein neuer Bürgermeister, die alten, schon eingestaubten Pläne für die Hafenerweiterung wieder hervorzuholen. Kurzfristig würde das eine Stange Geld kosten, aber langfristig käme es der Stadt eindeutig zugute.

      Die Spekulanten beeilten sich, ihre Vereinbarungen mit Babel aufzukündigen, aber die Verträge waren unterzeichnet, und nach all den Jahren fruchtlosen Wartens mussten sie zusehen, wie ein anderer ihre Gewinne einstrich. Sie setzten Himmel und Hölle in Bewegung, aber zu spät. Mit einem Schlag war Babel nicht mehr der armselige Besitzer einiger Häuser in den Außenvierteln, sondern ein wichtiger Player auf dem Immobilienmarkt. Wie Babel es einmal in einem Interview beschrieb: Er fühlte sich für sein soziales Engagement belohnt. Aus dem Wohnviertel würde zwar nichts mehr werden, aber es gebe andere Orte und andere Projekte, an denen er seine Menschenliebe ausleben könne. Die Tatsache, dass er mit einem Schlag zum Millionär geworden sei, habe nichts mit pfiffigen Entscheidungen oder Glück zu tun, nein, der Finger Gottes habe ihm gezeigt, welche Richtung er mit seinem Leben einschlagen sollte, und er, Babel, werde die Talente, die er besaß, nicht einfach begraben.

      So weit die offiziellen Biografien. Die übrigens reißenden Absatz fanden. Wer wollte schließlich nicht von einem Burschen lesen, der durch harte Arbeit und kluge Investitionen zu einem der großen Akteure dieser Stadt aufgestiegen war? Babel war der fleischgewordene kapitalistische Traum. Und die Verlockung des Traums war simpel: Wenn er es fertiggebracht hatte, dann konnten sie es auch. Dass er sein Glück in religiöse Begrifflichkeiten übersetzte, damit konnten sie leben. Auch sie hielten ja irgendwo einen Gott in der Hinterhand.

      Manche Journalisten hatten ihre Mühe mit dieser geradezu filmischen Biografie und machten sich daran, in der Vergangenheit des erfolgreichen Mannes zu graben. Sie fanden keine soliden Eltern in einem der ärmeren Viertel dieser Stadt, sondern das Grab einer gewissen Rebecca Babel, einer Waschfrau und unverheirateten Mutter eines Sohnes, den sie noch vor ihrer Flucht aus Polen auf den Namen Abraham hatte taufen lassen. Schulzeugnisse des guten Schülers Abraham Babel blieben unauffindbar; stattdessen stieß man auf das Strafregister eines Gleichnamigen, der von seinem siebzehnten bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr wegen Hehlerei im Gefängnis gesessen hatte.

      Es war verführerisch, in diesem kriminellen Abraham den erfolgreichen Immobilienhändler auszumachen, aber letztendlich gab es zu wenig harte Beweise, die eine unumstößliche Identifizierung ermöglicht hätten. Klarer wurde die Rolle des neuen Bürgermeisters bei der Hafenerweiterung. Nach jahrelangen Untersuchungen stellte sich heraus, dass er einer von Babels Geldgebern gewesen war, als dieser die wertlosen Häuser aufgekauft hatte. Aber zu diesem Zeitpunkt war es schon zu spät und Babel bereits zu mächtig.

      Das soziale Engagement, das er angekündigt hatte, nahm recht eigenwillige Formen an. Er kaufte tatsächlich Straßenzüge in fast nicht mehr bewohnbaren Vierteln auf, in die sich weder das Gesetz noch vornehme Bürger hineinwagten, aber anstelle von besseren Häusern kamen Bulldozer, Industrieparks, Überwachungskameras und Zwangsräumungen. Der kapitalistische Traum war eindeutig nicht jedem beschieden. Mit dreißig Jahren heiratete er Anna Glück, die Tochter eines Industriellen, der genau wie Babel ein Selfmademan war. Es wurde eine Märchenhochzeit, komplett mitsamt der bösen Fee in Form der Schwester der Braut. Myriam Glück, so wurde geflüstert, war offenbar Babels erste Wahl gewesen. Bis er dahinterkam, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Woraufhin er sein amouröses Augenmerk mühelos auf die jüngere Schwester verlagert hatte.

      Es war eine Entscheidung gewesen, die Früchte abwarf. Ein Jahr später wurde Joseph Babel geboren. Dieses ganze finanzielle und häusliche Glück hatte seine Auswirkungen auf Abraham Babel. Der Herr hatte ihm so viel geschenkt. Wie konnte er seine Zukunft absichern? Wie konnte er den Herrn so weit bringen, dass Dieser ihm das Glück nicht wieder nahm?

      Er beschloss,


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