Babel. Jan de Leeuw

Babel - Jan de Leeuw


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      Lisbeth zweifelte nicht, das konnte sie sich nicht erlauben. Wie sollte sie ohne Hoffnung in den dunklen Tiefen überleben? Wenn man genug Entbehrungen ertragen hatte und nicht mehr tiefer sinken konnte, dann würde das Wunder geschehen. Meistens war es ein Mann, der ihr frisches kleines Gesicht unter den Rußflecken aufschimmern sähe. Manchmal war dieser Mann Lichtenstern, und dann vergaß sie einstweilen, dass sie ihn gerade noch als fleischgeworden Teufel abgestempelt hatte. Es gab Tage, an denen sie ihre Fantasien in eine praktischere Richtung dirigierte. Dann träumte sie, beim Putzen einmal ein Diamantarmband oder wichtige Papiere zu finden. Als ehrliche Finderin würde sie daraufhin nicht nur mit genügend Geld, sondern auch mit einer Stelle in einem der oberirdischen Büros belohnt. Einer Stelle, die sich zuletzt auch nur als eine Gelegenheit herausstellen würde, einen erfolgreichen Mann kennenzulernen. Darauf zu bauen, dass harte Arbeit ihr den Weg nach oben ebnen würde, hätte Verrat an ihren Träumen bedeutet. Lisbeths Haltung war «Alles oder nichts», und weil es jetzt schon fünf Jahre lang «nichts» gewesen war, bestärkte sie das nur noch in der Überzeugung, das «Alles» noch vor sich zu haben. Dass sie von Hunderten anderer Frauen umgeben war, die es auch nirgendwohin schafften, schien sie nicht zu entmutigen.

      In der Zwischenzeit machten die anderen Subs ihr das Leben sauer. Deren Kommentare konnte sie ignorieren, aber die Schikanen nicht. Oft war abends ihr Kopfkissen oder ihre Bettdecke verschwunden. Sie wurde in den Duschen eingesperrt oder nachts unsanft geweckt, und auch Naomi als Lisbeths «Busenfreundin» wurde schon bald drangsaliert.

      Es begann mit einer Haarbürste, die von ihrem Nachtschrank verschwand. Naomi fragte am nächsten Morgen, ob jemand wisse, wohin sie verschwunden sei, aber die Mädchen mimten die Ahnungslosen. Sie bekam von Frau Prynne eine neue Bürste und eine negative Beurteilung.

      Seitdem packte sie ihre Sachen in ihren Spind, aber es gab andere Möglichkeiten der Schikane.

      Als sie von einer Abendschicht zurückkehrten, waren ihr Bett und das von Lisbeth klatschnass. Jemand hatte einen Eimer Wasser über Bettzeug und Matratzen ausgekippt. Lisbeth versuchte zu tun, als ob nichts wäre, aber Naomi sah die Tränen in ihren Augen.

      «Du!», rief Naomi Rosario zu. «Wer war das?»

      Rosario saß auf ihrem Bett und kämmte sich die Haare.

      «Wovon sprichst du?», sagte sie.

      Zu diesem Zeitpunkt waren noch vier andere Mädchen im Saal: Maria, Deborah, Christel und Tu. Keine von ihnen hob den Kopf. Ihre Gleichgültigkeit verriet ihre Mitwisserschaft.

      «Davon», sagte Naomi. Sie fasste Rosario am Arm und schleifte sie zu dem nassen Bett.

      «Bist du verrückt geworden? Lass mich los!»

      Sie warf Rosario auf das Bett und setzte sich auf sie.

      «Was soll das, Neue? Lass sie los!»

      Die anderen Mädchen sprangen von ihren Betten.

      «Noch einen Schritt näher, und ich breche ihr den Arm», sagte Naomi.

      Sie verdrehte Rosario den Arm, bis diese aufschrie.

      «Was fühlst du?»

      «Lass mich los!»

      «Was fühlst du?»

      «Es ist nass.»

      «Wie kommt das?»

      «Ich weiß es nicht.»

      «Wenn du mir sagst, wer es war, lasse ich dich los. Sonst …»

      «Au! Das ist unfair! Ich war es nicht. Ich habe nichts damit zu tun!»

      «So einfach kommst du nicht davon. Du kannst nicht die Augen schließen und sagen, du wüsstest von nichts. Wenn du weißt, wer es war, und schweigst, dann bist du mitschuldig.»

      «Es langt jetzt, Neue», sagte Deborah. «Lass sie los.» Sie kam auf Naomi zu.

      «Wenn ich dir den Arm breche, Rosario, dann deshalb, weil Deborah es so will. Das verstehst du doch?»

      Naomi drehte Rosarios Arm noch mehr zu ihrem Nacken hin. Rosario schrie aus Leibeskräften.

      «Es war Deborah! Es war Deborah!»

      Naomi ließ Rosario los und ging zu Deborahs Bett.

      «Was hast du vor?»

      «Na, was wohl? Ich gehe schlafen. Es war ein langer Tag.»

      Naomi knotete ruhig die Ärmel ihrer Bluse auf.

      «Geh von meinem Bett, bevor ein Unglück geschieht, Neue.»

      «Wenn du Probleme mit meiner Bettwahl hast, kannst du das ja sofort Frau Prynne erzählen.» Naomi deutete mit einem Kopfnicken auf einen Schatten hinter Deborah.

      Deborah war erstaunt, dass Frau Prynne zu dieser Zeit im Schlafsaal sein sollte, und drehte sich um.

      Naomi fasste sie an den Haaren und knallte sie dreimal fest mit dem Kopf auf das Fußende des Betts. Als sie Deborah losließ, fiel diese stöhnend zu Boden. Maria und Tu rannten zu ihrer Freundin und versuchten, sie hochzuziehen.

      «Du hast mir den Kiefer gebrochen, du Fotze! Ich gehe zu Prynne! Das kostet dich deinen Kopf!»

      «Nur zu!», rief Naomi. «Und bitte sie auch gleich, den Reserveschlüssel zu deinem Spind mitzubringen. Ich kenne sie nicht so gut wie ihr, aber mir scheint, sie fasst einen Streit zwischen Subs nicht so schwer auf wie den Diebstahl von Babels Eigentum.»

      «Du durchgeknallte Fotze!», rief Deborah.

      «Schlaf gut», sagte Naomi. Sie stieg aus ihrem Rock, faltete ihn zusammen, legte ihn auf Deborahs Nachtschrank und kroch unter die Bettdecke. Deborah hielt sich den Kopf mit beiden Händen und machte sich im Saal auf die Suche nach einem trockenen Bett. Gefolgt von Lisbeth.

      An ihren freien Nachmittagen saß Naomi meistens auf einer Bank in einem Park unweit des Turms. Sie kaufte Obst an einem Stand neben dem Eingang zum Park und beobachtete Frisbee-Fanatiker, Hundespaziergänger, Mütter mit klebrigen Kindern, schwänzende Schüler, Alkoholkranke und Baseballspieler. Sobald der Schatten des Turms auf ihre Bank fiel, wusste sie, dass es Zeit wurde zurückzukehren.

      An einem dieser freien Tage wurde sie von Geschrei aufgeschreckt. Es kam von der anderen Seite des Parks. Über den Rasen, im Slalom zwischen ballspielenden Kindern, kam ein Jugendlicher in ihre Richtung gerannt. Er stolperte, rappelte sich wieder auf und rannte wie ein Besessener weiter.

      Kurz darauf wurde klar, warum. Zwei Polizisten waren hinter ihm her. Alter und Donuts hatten ihren Tribut gefordert, aber sie gaben nicht auf, und das Meer der Parkbesucher teilte sich, als sie vorbeistolperten. Der Jugendliche rannte an Naomis Bank vorbei. Ihre Blicke kreuzten sich. Er zögerte und sprang dann in das Gebüsch hinter ihrer Bank.

      Sofort darauf keuchten die Polizisten an ihr vorüber. Als sie merkten, dass sie den Jungen aus den Augen verloren hatten, blieben sie stehen. Der Ältere der beiden, rot angelaufen, die Hand auf seiner Pistolentasche, wandte sich zu ihr.

      «Wohin ist er verschwunden?»

      «Der Junge, der gerade hier vorbeigelaufen kam?», fragte Naomi.

      «Wer sonst?»

      «Er ist über die Hecke gesprungen. In diese Richtung.»

      «Unmöglich. So schnell kann er nicht gewesen sein.»

      Naomi zuckte mit den Schultern.

      «Du musst doch gesehen haben, wohin er verschwunden ist!»

      «Über die Hecke. Vielleicht können Sie ihn noch einholen, aber ich bezweifle es. Er war sehr schnell. Was hat er denn ausgefressen?»

      «Das geht dich nichts an. Ich will von dir lediglich wissen, wo er ist.»

      Sie stand auf. Ihre Jacke öffnete sich, und der Turm, der sich über ihre Brüste spannte, konnte dem Blick der Polizisten unmöglich entgehen.

      «Du bist eine von Babel», sagte der Jüngere von ihnen. «Wie


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