Eine Welt auf sechzehn Saiten. Frank Schneider
als kapitalistisches Land galt. Man brauchte also einen Reisepass und ein Visum. Eine Woche vor Beginn kam vom Rektor der Hochschule die Mitteilung, dass ich keinen Pass bekommen konnte, vermutlich hatte jemand etwas dagegen, einen Nicht-FDJler in den Westen reisen zu lassen. Deshalb nahm ich Kontakt mit Manfred Stolpe auf, damals Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, den ich über meinen Vater, der zu jener Zeit Bischof von Berlin-Brandenburg war, gut kannte. Ich wusste, dass Stolpe zum Staatsapparat berufsbedingte Beziehungen pflegte. Wenige Tage später erhielt ich vom Prorektor der Hochschule die Mitteilung, dass ich doch fahren könne – obwohl der Wettbewerb schon kurz vor dem Abschluss stand. Aber immerhin wusste ich nun, dass sich etwas bewegen ließ, und so sprach ich wegen des nahenden Quartett-Wettbewerbs sozusagen vorbeugend wieder bei Stolpe vor, weil mir klar war, dass ich ohne Mitgliedschaft in der Organisation der »Freien Deutschen Jugend« wieder Schwierigkeiten bekommen würde. Diese Extraunterstützung war notwendig, und Stolpe hat es offensichtlich hingekriegt, dass wir nach Evian fahren konnten.
Wie ging es Ihnen dort, was haben Sie konkret erlebt?
FR: Im französischen Evian fand der bedeutendste Wettbewerb für Quartette statt, und wir wollten von vornherein so auftreten (obwohl wir uns vielleicht etwas fremd und klein vorkamen), als ob wir uns hier richtig und wichtig fühlten – genau wie die anderen Teilnehmer mit ihren bisweilen etwas großspurigen Attitüden. Außer uns waren noch 15 weitere Quartette angetreten, die aus ganz Europa kamen. Wir haben ihnen aufmerksam zugehört, und ich dachte sehr oft – trotz meiner selbstkritischen Ader –, dass auch sie nur mit Wasser kochten.
SFO: Ein amerikanisches Quartett war wegen Tschernobyl nicht erschienen, weil die Mitglieder Angst vor atomarer Ansteckung bekommen hatten. Ein anderes, sehr berühmtes, war allerdings als Jury-Mitglied gekommen: das LaSalle Quartet.
Was haben Sie spielen müssen?
FR: In der ersten Runde Mozart, den ersten Satz aus dem A-Dur-Quartett KV 464, eines der Gipfelwerke seiner Quartettkunst aus dem Jahre 1785, als Pflichtstück, dann ein modernes Stück nach freier Wahl. Während die meisten Teilnehmer ein Quartett von Béla Bartók spielten, hatten wir uns für das 2. Streichquartett von György Ligeti entschieden, eines der Schlüsselstücke moderner Kammermusik aus dem Jahr 1967, welches übrigens unsere Juroren, das LaSalle Quartet, in Auftrag gegeben und 1968 uraufgeführt hatten.
SFO: Vielleicht war es ein Riesenglück, dass dieses LaSalle Quartet als gewichtigster Teil einer weitaus größeren Jury uns gehört hat. Wir haben das Stück offenbar so mühelos und engagiert gespielt, dass ihnen, die es doch wie niemand sonst kannten, irgendwie der Unterkiefer herunterhing. Als wir fertig waren, standen sie auf, die vier Berühmtheiten, und applaudierten, was im Rahmen eines Wettbewerbes sehr ungewöhnlich ist. Unter damals nicht unbedeutenden Mitbewerbern wie dem Ysaÿe Quartet, dem Martinu-, dem Verdi Quartett und anderen erhielten wir den 1. Preis, und ich bin sicher, dass wir ihn dem Werk von Ligeti verdankten, auch wieder einer nachdrücklichen Empfehlung von Professor Feltz folgend. Für mich war es psychologisch noch sehr wichtig, dass durch dieses Stück die Jury auf unserer Seite war und zumindest ein Preis in Aussicht stand, der – das war klar ausgesprochen worden – vom Kulturministerium auch unbedingt erwartet worden war! Insofern haben wir dann auch die 2. Runde entspannt angehen können.
FR: Es ist sicher richtig, was Stephan sagt, aber bei mir dominierte in der 2. Runde eher das bange Gefühl, dass es nun wirklich ernst wurde und um etwas Wichtiges ging. Es stieg die Nervosität, und tatsächlich lag es dann an mir, dass im letzten Satz vom Brahms-Quartett eine Stelle (mit diesen kleinen Einwürfen und Pausen) ganz schön geklappert hat. Neben Ligeti und Mozart, der in der letzten Runde komplett gespielt werden musste, gab es noch zwei weitere Pflichtstücke: das Streichquartett von Debussy und das a-moll-Quartett von Brahms – ein erstaunlich kleines, gedrängtes Programm übrigens, wenn man es mit den heutigen, extensiveren, wesentlich umfangreicheren Anforderungen bei Wettbewerben vergleicht.
Wollen Sie etwas über die Modalitäten des Preises verraten?
SFE: Der Vollständigkeit halber muss gesagt werden: Wir bekamen in Evian den 1. Preis, plus den Preis für die beste Interpretation eines zeitgenössischen Stücks (also Ligeti), plus den Pressepreis. Wir fuhren also mit insgesamt drei Preisen nach Hause. Alle drei waren dotiert – das war schon einigermaßen spektakulär. Aber mindestens ebenso wichtig waren die internationalen Konzerte, die uns schon gleich in Evian von anwesenden Agenturen und dann gehäuft nach unserer Rückkehr angeboten wurden.
TV: Es war allerdings noch nicht so wie heute, dass gleich Manager mit am Tisch sitzen, Folgeverträge verteilen und Tourneen organisieren, die sowohl für die Veranstalter als auch für die Quartette, die gewonnen haben, günstig sein können – oft mit dem Nachteil, dass sie dann nach dem Jahresvertrag, den sie in der Regel bekommen, wieder in der kalten Luft stehen, denn dann gibt es die nächsten Wettbewerbssieger … Das Preisgeld in französischen Francs war relativ hoch, für unsere Ostverhältnisse wie ein Sechser im Lotto. Ich glaube allerdings, wir durften nicht alles in Originalwährung behalten.
FR: Ich weiß noch ganz genau, wie es war: Von der Gesamtsumme mussten 40 % eins zu eins in DDR-Mark umgetauscht werden. Das heißt, beim Preis kamen auf jeden ungefähr 10.000 DM und von diesem Geld wurden 4000 DM in Mark der DDR gewechselt, während wir den größeren Rest in West-Mark behalten durften. Es kam noch hinzu, dass wir in der Schweiz ein Folgekonzert hatten, mit Franken ordentlich vergütet, die wir gar nicht angegeben haben.
Das nenne ich einen fulminanten Start. Aber was sagte man in der Heimat?
SFO: Bei der Hochschulleitung war die Reaktion eher verhalten. Die Prorektorin wies mich anstelle eines Glückwunsches auf bevorstehende Wahlen hin, die ich wahrnehmen müsse, weil es auch für Preisträger keine Sonderrechte gäbe. Olaf Koch, unser Rektor bis 1986, war uns wohlgesinnt und hatte die Reise nach Evian befürwortet, aber sein Nachfolger Erhard Ragwitz, der komponierende Gatte der damals mächtigsten Kulturbeamtin im Zentralkomitee der SED, Ursula Ragwitz, behandelte uns mit erheblicher Missgunst, fast wie Aussätzige, und bestand pedantisch darauf, dass wir unser Studium korrekt abschließen. Auftritte im Quartett, Reisen, gar ins westliche Ausland, machte er vollständig davon abhängig. Man muss natürlich zugeben, dass wir in gewissen Nebenfächern, der eine in Philosophie, der andere in Politischer Ökonomie, ein dritter im Sport, nicht gerade rühmlichen Eifer entfalteten und Gefahr liefen, das Diplom verweigert zu bekommen. Aber wir unterstellen einmal, dass sein Groll vor allem daher rührte, dass wir freiwillig Musik von Ligeti – in seinen Augen skandalöserweise ein Dissident, ein Verräter am Sozialismus und ein Kapitalistenknecht – und nicht besser das Werk eines Komponisten aus der DDR, will sagen: von ihm selbst gespielt hätten.
Aber Sie haben Ihre Abschlüsse schließlich bekommen.
SFO: Dabei waren unsere Fachlehrer, die Professoren Alfred Lipka, Josef Schwab und Eberhard Feltz, extrem hilfreich, so dass wir in Windeseile doch alle unsere Abschlüsse bekamen und im Winter 1987 dann mit unserem Studium fertig wurden. Nach dem Evian-Erfolg waren wir zwar sofort in der Künstleragentur der DDR, der staatlichen Vermittlung von Konzerten, registriert worden, aber deren Vertreter, ein Herr Dr. Lang, kam mit Begleitung zu uns in die Hochschule und sagte: »Gentlemänner, es ist ja wenig erfreulich, dass Sie Ihr Studium noch nicht abgeschlossen haben, so können wir natürlich nicht ins Geschäft kommen. Machen Sie erst einmal Ihre Hausaufgaben!« Wir haben sie dann gemacht, aber bis dahin wurden wir absolut restriktiv behandelt, so dass ich abermals zu Manfred Stolpe gehen und ihn bitten musste, uns zu helfen (was er getan hat!), um einer Einladung zum Schleswig-Holstein Festival 1987 folgen zu können. Dabei hat er höchstwahrscheinlich Kanäle nutzen müssen, die auch zur Staatssicherheit führten und die man ihm später, als er Ministerpräsident von Brandenburg war, zu Unrecht ankreidete. Diese Vorwürfe haben sicherlich ihren Grund darin, dass er Kontakte hatte, die inoffiziell waren. Aber die Frage ist ja, inwieweit und zu welchem Zweck er sie genutzt hat – im Sinne des Staates oder um damit Menschen, wie etwa auch uns, helfen zu können.
Nach dem Abschluss des Studiums hätte eigentlich jeder von Ihnen auch eine normale Laufbahn als Orchestermusiker antreten können. War das überhaupt ein Thema für Sie oder stand nun endgültig fest, dass Sie sich nicht mehr trennen und – mit Beethoven gesprochen – gemeinsam dem Schicksal in den Rachen