Eine Welt auf sechzehn Saiten. Frank Schneider
Otto Bräutigam –, bat er uns, irgendetwas Kräftiges und Lautes zu spielen, damit eventuell mitlauschende Sicherheitsbehörden größere Schwierigkeiten hätten, die Gespräche der beiden zu verstehen.
Ist das eine Vermutung oder wart Ihr tatsächlich verwanzt?
SFO: Wir wohnten Parkstraße 21 in direkter Nachbarschaft zur Parkstraße 22, in der die SED-Kreisleitung beheimatet war. Man hätte mit einem Richtmikrofon direkt auf unsere Fenster zielen können. Aber ich bin dem niemals nachgegangen.
FR: Aber ja, ihr wart verwanzt, ich erinnere mich. Da keiner von uns ein Telefon zu Hause hatte, bat ich einmal für einen dringenden Anruf um Benutzung des Diensttelefons im Büro deines Vaters. Als ich meine Nummer gewählt hatte, knackte es kurz in der Leitung und eine Stimme sagte – sie klang wie von nebenan: »Legen Sie bitte auf und wählen Sie noch einmal neu.« Da hatte sich einer verstöpselt, und erst beim zweiten Versuch klappte die Verbindung. Ein klarer Fall.
SFO: Im Grunde hat sich an der Proben-Lokalität bis heute wenig geändert, denn ich wohne wieder in der Parkstraße, allerdings in einem anderen Haus. Dort haben wir einen Probenkeller, der sehr geräumig und perfekt ausgestattet ist. Den nutzen wir, sooft es nötig ist. Wenn es zwischenzeitlich nicht möglich war, zu Hause zu üben, konnten wir manchmal, aber nicht sehr oft, in die Musikhochschule gehen; zumeist aber haben wir dann in der Stephanus-Stiftung in Weißensee proben können und die Miete in Form eines jährlichen Konzerts entrichtet. Diese kirchliche Stiftung, ein Pflegeheim für Senioren, ist nach der Wende stark umgebaut worden; Baulärm und Presslufthämmer haben uns nicht abhalten können, sie mit Klängen neuer Musik zu kontern, aber es war für uns damals eine ganze Zeit lang eine extrem stressige Situation.
Sie mussten sich, um konzertieren zu können, die Quartett-Literatur gleichsam von null auf hundert aneignen. Was und wie haben Sie geprobt?
TV: In der Tat hat uns Evian mit vier Stücken entlassen, es kamen noch ein Mozart und ein Beethoven dazu, die wir auch geprobt und als eine Art Reserve im Gepäck hatten. Ein viel zu kleiner Grundstock für eine Konzert-Karriere! Uns ist dann aber das ein Jahr währende, schikanöse Reiseverbot während des Studiums in gewisser Weise zum Vorteil ausgeschlagen, denn in dieser Zeit konnten wir uns nun erst einmal eine Reihe neuer Werke erarbeiten. Dennoch standen wir vor der veränderten Situation, dass der Mentor, Professor Feltz, der die Stücke für Evian intensiv mit uns erarbeitet hatte, danach nicht mehr in gleicher Weise zur Verfügung stand und wir gewissermaßen allein auf uns gestellt waren. Wir empfanden das, namentlich im Hinblick auf die großen, vielgespielten, aber schwer zu realisierenden Brocken wie etwa Schuberts »Der Tod und das Mädchen«, als eine ziemlich riskante Situation für uns Neulinge. Natürlich haben wir zur Kontrolle die Stücke hin und wieder Herrn Feltz oder auch meinem Vater einmal vorgespielt, um sicher zu sein, dass wir in der Stilistik der Interpretationen nicht ganz danebengegriffen hatten. Aber die eigentliche formale, inhaltliche, dramaturgische Durchdringung der Werke, auch die technischen Festlegungen vom Tempo über Dynamik und Agogik bis zum Bogenstrich, das alles musste nun überwiegend im internen Dialog unter uns vieren überlegt und festgelegt werden. Damals war es so, dass wir gegenüber den Veranstaltern meist selbst bestimmen konnten, wie unser Konzertabend aussehen soll, das heißt, es konnten die Stücke sein, bei denen wir uns besonders wohl fühlten, weil sie hinlänglich geprobt waren. Darunter befand sich stets ein Werk der neuen Musik, für die wir uns durch den Sieg in Evian mit dem Stück von Ligeti besonders prädestiniert fühlten – eines unserer Markenzeichen eigentlich bis heute.
SFO: Ich muss hier nicht gerade widersprechen, aber so ganz ohne erfahrene Anleitung waren wir dann doch nicht, und zwar auch über Professor Feltz und deinen Vater hinaus. Zum Beispiel haben wir direkt nach Evian eine Einladung vom LaSalle Quartet zu ihrem Meisterkurs nach Basel bekommen, wo wir ganz intensiv Haydns op. 20/4 und Beethovens »Große Fuge« erarbeiteten. Sie legten uns nahe, unbedingt die Quartette der Zweiten Wiener Schule zu studieren – was wir auch getan und später mit ihnen gemeinsam geprobt haben. Wir besuchten auch andere Kurse wie etwa das Orlando Festival in Kerkrade (Holland), wo wir durch Kontakte und Fachgespräche mit András Mihály, Arnold Steinhardt oder Sándor Végh durchaus viel gelernt haben.
Wir lernen Eberhard Feltz in den biographischen Monologen ausführlich als charismatischen Hauptfachlehrer für Violine kennen, an dieser Stelle sollten wir aber noch detaillierter etwas über seine Rolle als Mentor des Quartetts erfahren.
TV: Er war auch in der Quartettarbeit eine wirkliche Koryphäe und verstand es, mit uns wie ein Dirigent Partituren zu erarbeiten. Er studierte sie so lange, bis sie in Bezug auf Architektur, Harmonik, Polyphonie und auf das Verhältnis von Haupt- und Nebenstimmen vollständig transparent wurden. Er war ein Meister in ihrer psychologischen Ausdeutung, indem er quasi jeder Stelle einen inhaltlichen Sinn gab, der auch mit der formalen Position innerhalb des Ganzen korrespondierte und übereinstimmte. Dadurch hatten wir einen Wettbewerbs-Vorteil gegenüber anderen Gruppen, die vielleicht nicht weniger gut gespielt haben, denen aber, wie soll ich sagen, ein solches visionäres Konzept fehlte, das bei uns stets auch beim Spielen durch die Zusammenarbeit mit Feltz im Hinterkopf präsent war.
Sie haben also die Stücke erst einmal für sich bis zu einer gewissen technischen Reife geübt und sie ihm dann vorgetragen, um das Resultat gemeinsam zu diskutieren und in eine definitive Klangform zu bringen.
FR: Na ja, das von uns Gespielte wurde von ihm stets mit allerhöchster Aufmerksamkeit angehört und, wenn nötig, erbarmungslos erst einmal wieder auseinandergenommen und einem neuen Probieren ausgesetzt. Dabei ging es wirklich um alle Facetten des Quartettspiels. Vor allem aber immer darum, der Musik ein unverwechselbares Profil zu geben, Geschichten zu erzählen, erfüllt zu spielen. Seine Bilder zu bestimmten Stellen habe ich bis heute im Kopf. Und ich höre bis heute sein knurrendes, forderndes »noch!« während unseres Spiels. Wir dachten, dass wir bereits ziemlich gut ausführten, was er von uns verlangte. Er aber wollte mehr. Ich erinnere mich an den 2. Satz von Brahms Streichquartett op. 51/2. Es gibt einen großen dramatischen Dialog zwischen erster Geige und Cello. Das Cello war ihm nicht charakteristisch, vor allem nicht kräftig genug, und wir spielten die Stelle so lange, bis Stephan, schon mächtig in Rage, regelrecht mutwillig forcierte für unsere Ohren. Feltz sagte dann: »Ja, so war das Cello ein bisschen besser zu hören, aber 50 % mehr musst Du schon noch geben.« Er führte uns über unsere Grenzen hinaus. Und er stellte Aufgaben – ein wichtiger Teil des Unterrichts konnte seine lapidare und für ihn ganz typische Frage zu einer musikalischen Passage sein, »Was ist das?«, ohne sie zu beantworten. Und da wir natürlich keine Antwort wussten, schleppten wir die Frage verunsichert bis zum nächsten Termin mit uns herum. Heute denke ich, dass er genau das beabsichtigte: keine Antwort, sondern Nachdenken, das zu eigenen Einsichten und damit zu neuen klanglichen Visionen führen konnte.
SFE: In dieser Hinsicht möchte ich Tims Vater erwähnen. Die Feltz’schen Sentenzen – ihr Geiger kanntet ihn ja besser – blieben mir in ihrer Abstraktheit und Lakonie doch gelegentlich etwas rätselhaft. Dann war es Michael Vogler, der – wenn er uns als Quartett ebenfalls zeitweise betreute – solche enigmatischen Verlautbarungen ein wenig ausgedeutet und in eine praktische Richtung übersetzt hat.
SFO: Einen Tag vor der Abreise nach Evian haben wir Feltz noch einmal das a-moll-Quartett von Brahms vorgespielt. Seine Reaktion: »Ich weiß nicht, also der letzte Satz …« Er hat unsere ganze Konzeption des Finales gleichsam noch einmal auf den Kopf gestellt, und wir dachten: Muss das jetzt so kurz vor dem Wettbewerb noch sein! Er hatte das Gefühl, dass musikalisch irgendetwas noch nicht stimmte und anders gespielt werden müsste. Wir haben das dann auch probiert und wahrscheinlich – den schließlichen Erfolg bedenkend – war es etwas, das wir noch gebraucht haben. Aber man frage nicht, was es eigentlich war! So geht es eben manchmal mit der Musik.
SFE: Mir ist aus dieser ganzen Anfangs- und Aufbruchssituation vor allem der ständige zeitliche Druck in Erinnerung, unter dem wir probten und spielten. Und wir probten und spielten sehr viel, denn wenn unser Repertoire zunächst auch relativ klein war, so wollten wir es doch in maximaler Qualität erhalten und verbreiten. Wir haben immer an der Kante gearbeitet, mussten Neues einstudieren, Bekanntes repetieren, dieses lernen, jenes aufbereiten. Es gab Anfragen nach Stücken, die wir noch nicht konnten, und es gab Wünsche von uns selbst, gewichtige Lücken im Repertoire zu füllen, wofür allerdings die