Eine Welt auf sechzehn Saiten. Frank Schneider
Cello zu bezahlen hatte, kamen wir am 8. Februar an und blieben ein Trimester bis Ende Mai. Um in Cincinnati als Studenten akzeptiert zu werden, mussten wir als Erstes einen Sprachkurs absolvieren, aber wir hatten längst in Erwartung des eventuell Kommenden zu Hause etwas Englisch trainiert, so dass uns das keine Schwierigkeiten bereitete.
Wie vollzog sich der Unterricht beim LaSalle Quartet konkret?
FR: Er wurde vom ganzen Quartett durchgeführt, von jedem Einzelnen seiner Mitglieder. Wir haben in dieser Zeit einen großen Grundstock an neuen Werken gelernt, darunter die »Lyrische Suite« von Alban Berg und das große G-Dur-Quartett von Schubert. Ich glaube, wir haben 13 Stücke erarbeitet, also wirklich intensiv studiert, jeden Tag viele Stunden geprobt. Es war insgesamt eine ganz wichtige, herrliche Zeit. Wir wohnten in privaten Häusern bei unseren großzügigen und sehr herzlichen Gastgebern, hatten einen tollen Probenraum und zwei Autos, die wir nutzen konnten, waren umgeben von einem Wohlstand, wie wir ihn bislang nicht kannten.
SFE: Wir haben wirklich viel vom Können und der Erfahrung profitiert, aber die vier Herren standen kurz vor ihrer Trennung, so dass die Atmosphäre während des Unterrichts gelegentlich etwas angespannt war. Wir hatten den Eindruck, dass sie manchmal eher respektlos miteinander umgingen. Walter Levin hatte den Hut auf und sagte uns gleich zu Beginn: »Kinderchen, alles, was ihr mit meinen Kollegen gearbeitet habt, das möchte ich am Ende auch noch einmal hören, denn die können sich manchmal ziemlich vertun!« Es kam auch vor, dass Henry Meyer, der 2. Geiger, mitten in der Lektion des Bratschers den Raum betrat, geräuschvoll seine Aktentasche auf den Flügel stellte, seine Zeitung auspackte und so lange mit lautem Umblättern darin las, bis Peter Kamnitzer mit dem Unterricht fertig war und er beginnen konnte. Er hätte sich ja auch beteiligen und uns oder seinen ungeliebten Kollegen kritisieren können.
Haben Sie noch andere Musiker gehört und kennengelernt?
SFO: Ja, wir haben Itzhak Perlman getroffen, den uns Henry Meyer vorstellte. Das Tokyo Quartet hatte eine Visiting Residency und hat sehr viel gespielt. Der Cellist Alban Gerhard war zur gleichen Zeit Student, mit ihm haben wir uns sehr angefreundet und eine Menge gemeinsam gemacht, Tischtennis und Billard gespielt, Pizzas gebacken and so on … Wir haben eine Menge interessanter Musiker kennengelernt, und überhaupt waren die menschlichen Kontakte mindestens so wichtig wie die fachliche Hauptaufgabe.
Den Gewinn einer solchen Zeit kann man sich wohl vorstellen – die Möglichkeit, sich ganz auf eine Sache zu konzentrieren, fern dem Alltagsstress und gebettet in ein rein künstlerisches Klima. Es war aber doch nicht so, dass Sie von den politischen Vorgängen außerhalb dieser Sphäre, namentlich den politischen Entwicklungen in Ihrer fernen Heimat, ganz abgeschnitten gelebt haben! ?
SFO: Keineswegs, in Amerika habe ich bei meiner Gastfamilie regelmäßig das Wall Street Journal gelesen, eine Zeitung, die bisweilen über europäische Angelegenheiten berichtete, über die ersten freien Wahlen der Duma in Russland, oder es wurde über die DDR bezüglich der Frage spekuliert, wie lange sich im Rahmen der Gesamtkonstellation der Ost-West-Balance der Eiserne Vorhang überhaupt noch halten würde. Als wir nach Ostberlin zurückgekehrt waren, gerieten wir mitten in die Debatten um das chinesische Massaker an demonstrierenden Studenten auf dem Tiananmen-Platz in Peking und waren empört, dass sich die DDR mit den chinesischen Machthabern solidarisierte. Aus einer Erfahrung von großer Freiheit kehrten wir zurück in eine ziemlich bittere und frostige Eiszeit, umso mehr zum Verzweifeln, als sich in Gorbatschows Sowjetunion seit längerem erfreulichstes Tauwetter etablierte, frappierende Vorgänge im Zeichen von »Perestroika« und »Glasnost« in uns neue Hoffnung auf Veränderungen im politischen System weckten.
In dieser Zeit begannen dann auch die Massenfluchten, die grotesken Pressefeldzüge, gehäufte Verhaftungen und Anfang des Herbstes schockierte Honecker seine Bürger durch die fatale Mitteilung, er weine den Tausenden, die der DDR eben wieder den Rücken kehrten, keine Träne nach. Es kam der 7. Oktober, der Feiertag zum 40. (und letzten) Jahrestag mit seiner Staatsfeier im Palast der Republik, der gleichzeitig ersten wirklichen Rebellion von frustrierten Demonstranten rund um die Berliner Zionskirche und den berühmten prophetischen Worten Gorbatschows an die Führung der SED, die damals gefallen sein sollen: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Und nun kommen auch Sie als Quartett einmal ins politische Spiel und werden – ich scherze ein wenig – von Ihrem Leben bestraft, indem man sich einfach gutsherrschaftlich Ihrer Kunst bediente.
FR: Ja, wir sind eingeladen worden, am 3. Oktober bei einer Veranstaltung im Zentralkomitee der SED für verdiente Genossen mitzuwirken, um als junges, frisches Ensemble die Leistungsfähigkeit sozialistischer Musikausbildung, wie es hieß, zu repräsentieren. Wir fanden, dass wir da in eine prekäre Lage geraten könnten, denn angesichts der Besorgnis erregenden, dramatischen Vorgänge ringsum wollten wir nicht die Letzten sein, die da sozusagen auf der Titanic noch kurz vor dem Untergang spielen.
SFO: Es war so eine hausinterne Veranstaltung. Vorn saß das ganze Politbüro mit Honecker, Krenz, Stoph, Sindermann und so weiter. Wir wurden angekündigt: »Und nun, liebe Genossen, lehnt Euch zurück, jetzt kommt das Vogler Quartett, die gerade in der Tschechoslowakei einen Preis gewonnen haben, und sie werden ein Menuett von Haydn spielen.« Das mit dem Preis stimmte, wir siegten bei einem Rundfunkwettbewerb in Prag. Wir hatten gerade zu spielen begonnen, als uns eine erste Störung irritierte. Es knirschte vorn in der ersten Reihe: Armeegeneral Keßler stand auf, er hatte ein Holzbein und schlurfte damit raus und dann wieder rein. Ich habe noch in Erinnerung, wie alt, müde und verbraucht diese ganze Polit-Riege aussah.
Ich nehme an, Sie auftreten zu lassen war dem Hirn von Frau Ragwitz entsprungen – als kleine Gegenleistung für ihre fördernde Hand, zum Beispiel das Votum für die Amerikareise.
FR: Ja, und ich wollte dazu noch sagen, dass wir uns über diese Einladung den Kopf zerbrachen, ob wir annehmen oder unter irgendeinem Vorwand ablehnen sollten. Schließlich fanden wir, dass auf jeden Fall eine kritische Stellungnahme unsere Zusage begleiten müsse, und deshalb schrieben wir einen Brief an Frau Ragwitz (die wir noch nicht persönlich kannten), weil die Einladung aus ihrem Büro gekommen war. Wir haben diesen Brief vollkommen naiv geschrieben, haben unsere Besorgnis über die politische Situation mitgeteilt, unsere Sicht auf die Dinge dargelegt und damit sagen wollen, dass wir uns eben Gedanken machen.
SFE: Es ging um die Wahrnehmung der Situation und wie entstellt sie in den Medien behandelt wurde, wenn man sie schon nicht ganz verschweigen konnte, und auch, wie Regierung und Volk immer deutlicher, immer schneller auseinanderdrifteten. Wir fragten, wohin das führen solle, ob wir überhaupt zur Huldigung des Staates noch auftreten könnten. Und unser abwägendes Ja war mit der illusorischen Selbsttäuschung verbunden, dass wir unseren Auftritt als Aufruf zu irgendeiner Neubesinnung, einer Korrektur, einem ehrlichen Dialog mit dem Volk verstanden wissen wollten. (siehe S. 348 f.)
SFO: Diesen Brief haben wir, ehrlich gesagt, mit feuchten Fingern zugeklebt und abgeschickt, weil man auch befürchten musste, dass eine Antwort eventuell das Ende der Quartett-Karriere hätte bedeuten können, zum Beispiel einfach dadurch, dass man die Zusagen zur Verzögerung des Armeedienstes aufhebt und uns zu Soldaten macht. Die Konsequenz des Briefes war also offen, doch wieder einmal schlug sie uns nicht zum Schaden aus.
FR: Wir wurden daraufhin nur – zusammen mit Professor Feltz – zu einer Aussprache bei Frau Ragwitz gebeten. Sie versuchte, unsere Vorbehalte zu beschwichtigen, den Anlass der bevorstehenden Veranstaltung zu erklären, und bat uns, dort keine Protest-Plakate zu entrollen, wovor sie offenbar die meiste Angst hatte. Aber zum Spielen versuchte sie uns durch einen besonderen Knüller zu überreden, der vertraulichen, dahingeflüsterten Mitteilung nämlich, dass sich in Kürze die Verhältnisse grundlegend verändern würden und nach dem Jahrestag Reformen anstünden. Pause. Und dann kam es: »Ich sage euch jetzt mal – Erich Honecker wird abgelöst.« Wir waren in der Tat vollkommen perplex: »Wer kommt denn dann?« – »Egon Krenz.« Ich wollte es nicht glauben: »Krenz? Der ist doch Alkoholiker!« Sie schaute mir ganz tief in die Augen: »Frank – das ist nicht wahr!«
Was für ein ungeheures, unfassbares Übermaß an Vertraulichkeit! Die Nachricht wäre zu diesem Zeitpunkt, Tage vor dem 3. Oktober, so etwas wie eine Weltsensation gewesen, wenn nur einer von Ihnen das einem westlichen Medium damals gesteckt hätte. Eine schöne Headline hätte das