Eine Welt auf sechzehn Saiten. Frank Schneider

Eine Welt auf sechzehn Saiten - Frank Schneider


Скачать книгу
LaSalle Quartet noch zwei ungarische Künstler als Mentoren an: Der eine ist der legendäre Dirigent und Geiger Sándor Végh, ein Schüler Jenő Hubays und Freund Béla Bartóks, der ein nach ihm benanntes, berühmtes Streichquartett gegründet hat und mit ihm als Emigrant ab 1946 von Paris aus international konzertierte. Es galt rasch als eines der weltbesten Ensembles, das, romantische Attitüden hinter sich lassend, empathische Musikalität mit höchster, sachlicher Werktreue verband.

      SFO: Wir hatten eine Einladung zur Teilnahme am Internationalen Meisterkurs »Prussia Cove« in Cornwall (England). Sándor Végh war dessen Begründer und veranstaltete dort bis ins hohe Alter Meisterklassen für Kammermusikspiel. Eine Einladung dorthin zu erhalten bedeutete eine wirkliche Auszeichnung, und ihr zu folgen war Ehrensache. Die Teilnahme am Kurs war für uns eine äußerst spannende Erfahrung – nicht nur durch das Erlebnis der Aura einer legendären Berühmtheit für unser Fach, sondern mehr noch durch die Befriedigung, authentische Überlieferungen aus einem riesigen Erfahrungsschatz vermittelt zu bekommen. Wie er uns namentlich in Bartóks 6. Streichquartett unterrichtet hat, ist mir unvergesslich. Übrigens saß hinter Végh wie ein Eleve stets der junge András Schiff und folgte jeder Regung des Meisters. Ich glaube, dass er eine Art Protokoll geführt hat – wie man sagt, eine sehr ungarische Tradition der Wissensvermittlung, die viel für sich hat.

      TV: Auf Sándor Végh müssen wir offensichtlich – wir schrieben 1988 – wie verschüchterte Mäuschen aus dem Osten gewirkt haben (was wir damals sicherlich auch waren), denn als Resumee des Kurses hat er uns, natürlich neben anderem, eindrücklich ans Herz gelegt: »Ihr seid ein gutes Quartett, aber ihr müsst viel und gut reisen und die Welt kennenlernen.«

      SFO: Ich glaube, eine ganz andersartige, jedoch ebenfalls unvergessliche Erinnerung ist noch mit dem Seminar verknüpft. Ein ziemlicher Schock. Wir waren gebeten worden, in einem der Konzerte in der Umgebung ein Haydn-Quartett zu spielen. Wir fuhren etwa eine Stunde mit dem Bus, zuvor aber hatte ich meine Noten in Franks Geigenkasten gelegt, ohne ihm das zu sagen. Bevor wir losfuhren, sah er flüchtig in den Kasten, Haydn war da, nur eben nicht seine, sondern meine Stimme. Als wir auf das Podium wollten, stellte er mit Erschrecken fest, dass seine Noten fehlten. Es gab keine Chance, sie zu beschaffen – der Weg war zu weit, es gab noch kein Internet. Was hat er gemacht? Er hat zum Schein für das Publikum andere Noten aufgelegt und das gesamte Haydn-Quartett von vorn bis hinten ohne einen Fehler auswendig gespielt.

      TV: Ich war furchtbar aufgeregt. Er sah käsebleich aus, war jedoch relativ ruhig. Ich merkte, dass er etwas zurückhaltender, ein wenig fragiler als sonst spielte, obwohl er musikalisch alles mitmachte, was interpretatorisch anstand. Ich dachte immer, wenn er jetzt aufhört …, also es war unvorstellbar, was so alles hätte passieren können! Aber es ging gut.

      Eine kolossale Gedächtnisleistung, von der er offenbar selbst nichts geahnt hat. Würden Sie anderen das auch können?

      SFO: Ich glaube, keiner von uns, ausgeschlossen! Ich hätte diese Nerven nicht gehabt, aber Frank hat in einem ähnlichen späteren Fall in England, bei einem anderen Haydn-Quartett, noch einmal auswendig spielen müssen. Ich habe für so etwas große Bewunderung. Chapeau!

      Der andere für Sie wichtige Ungar war der Komponist György Kurtág, der zusammen mit Béla Bartók und György Ligeti die berühmte magyarische Trias in der Geschichte der neuen, avancierten Musik bildet. Ihnen ist er jedoch nicht in erster Linie komponierend nahegekommen, sondern auf einem zweiten Tätigkeitsfeld, das mit seiner langjährigen Professur für Klavier und Kammermusik an der Budapester Musikakademie verbunden ist – bei seinen sommerlichen Meisterkursen für Kammermusik in Szombathely, einer mittleren Stadt in Westungarn nahe Österreich.

      SFO: Meine Frau kannte Kurtág von diesem Sommerkurs und hat immer schon von ihm geschwärmt. Als wir 1992 zum Kammermusikfestival ins finnische Kuhmo kamen, war auch Kurtág dort, und ich habe ihn angesprochen. Er war bereit, sich Schuberts G-Dur-Quartett anzuhören. Nach einigen Schwierigkeiten gab es einen Termin mit ihm als einzigem Hörer, und zu unserer Verblüffung (es ging die Fama, dass man über 2, 3, 4 Takte gar nicht hinauskommt) ließ er sich das ganze Werk vorspielen – mit der Bemerkung, er hätte es eben das erste Mal live gehört, obwohl er es kannte wie seine Westentasche.

      TV: Er hat sich höflichst bedankt für die Darbietung, so dass wir der Meinung waren, er findet unser Spiel sehr gut. Wir fanden uns gar nicht so großartig, wussten aber noch nicht, dass er das Stück sehr gut kannte. Wir haben ihn unterschätzt und waren dann erstaunt, dass er intensiv mit uns zu arbeiten begann.

      SFO: Interessant fand ich, dass er auch aus der Perspektive des Komponisten Kurtág den Komponisten Schubert analysierte und uns das, am Klavier spielend, in gedrängter, aber packender Form demonstrierte.

      TV: Ihm ging es darum, dass wir erst einmal genau hinhören, dann das Gehörte durchleben und schließlich das Gehörte und Durchlebte instrumental so umsetzen, dass die komponierten Absichten deutlich werden. Er arbeitet ganz intensiv am Klang. Wenn er am Klavier einen Akkord vorspielt, kann der etwas ganz anderes sein, als wenn wir selbst drei Tasten gleichzeitig drücken, um ihn hervorzubringen: irgendwie – in Anführungsstrichen – ein erfüllter, lebendiger, atmender Klang … Bei Schubert gibt es lange Pianissimo-Passagen, etwa beim zweiten Thema im ersten Satz mit kleinsten Akzenten, wo er uns abverlangte, sie trotzdem mit voller Intensität und Wärme zu gestalten. Dass dieser schmale, eher etwas durchscheinende und ein bisschen nervöse Mann keinen akademischen, sondern einen extrem lustvollen Ansatz zum Musizieren hat – und auch uns diesen sinnlichen Zugang körperlich abverlangte, fand ich besonders frappierend und beeindruckend.

      Gab es mit Kurtág nur diese eine Begegnung?

      TV: Nein, er kam wenig später, 1993/94, für zwei Jahre nach Berlin zum Wissenschaftskolleg, um als »Composer in Residence« bei den Berliner Philharmonikern zu arbeiten. Da haben wir ihn regelmäßig aufgesucht und eine ganze Menge Stücke mit ihm studiert, vor allem große Literatur wie Beethovens op. 127, Quartette von Schumann, das Klarinetten-Quintett von Brahms und anderes – unentgeltlich, weil er meinte, wir gehören doch »zur Familie«, also zu denen, die sich um ihn scharen, um die Geheimnisse großer Kammermusik von ihm zu erfahren und mit ihm zu teilen.

      FR: Er war im Übrigen kein großer Kommunikator, immer ins Komponieren versunken, deshalb war es nicht leicht, außerhalb der professionellen Stunden des Unterrichts Kontakt mit ihm zu knüpfen. Als ich ihn einmal mit dem Auto zu seiner Wohnung mitnahm, war es kaum zu glauben, dass der gleiche Mensch, der uns eben noch lebhaft belehrt hat, in totales Schweigen verfiel. Ich wollte es mit etwas Smalltalk versuchen und fragte, ob er Kinder habe. »Ja«, und damit war Schluss.

      Um auf Sándor Véghs Reiseempfehlung zurückzukommen, so trat er ja gerade bei Ihnen offene Türen ein. Durch die Welt sind Sie vor wie nach der Wende eigentlich immer gekommen, aber es fragt sich jetzt, ob Sie im Ausland nun anders wahrgenommen wurden als zuvor, zum Beispiel ohne den gewissen Exotenstatus, der uns Ostdeutschen als gutgemeinte Attitüde zugedacht wurde.

      TV: Natürlich bestand bei vielen Kollegen und Veranstaltern in der Regel ein lebhaftes Interesse an authentischen Berichten aus jener anderen Welt, die vielen Westdeutschen als sehr befremdlich erschien. Diese Neugier nahm enorm zu, als die Mauer gefallen war und sich in der anschließenden turbulenten Zeit abzeichnete, dass die DDR historisch abdanken und sich beide deutsche Staaten vereinigen würden. In gleicher Weise verschwand allmählich aber auch dieser besondere Bonus, den wir aufgrund unserer Herkunft einige Jahre hatten. In Frankreich sind wir immer auf ein starkes Interesse an den Vorgängen hinter dem Eisernen Vorhang gestoßen, vielleicht auch deswegen, weil aus der DDR ganz selten Gäste aus der Kunstszene kamen – im Gegensatz zu jungen russischen, polnischen, ungarischen oder sogar chinesischen Musikern, die dort schon früher und häufiger anzutreffen waren.

      FR: Die Exotenrolle als DDR-Bürger konnte durchaus auch groteske Situationen hervorrufen. Betuchte Frauen aus Konzertvereinen, in Neuss zum Beispiel, luden uns nach dem Auftritt in ihre schicken Häuser ein und wollten uns zeigen, wie das gute, freie Leben so läuft. Obwohl wir auch mal ausschlafen wollten, standen sie am nächsten Morgen um 9 Uhr bereit, um nach Düsseldorf zu fahren und uns auf der Kö ihr Konsumparadies vorzuführen. »Und wenn ihr nach Hause fahrt, geben wir euch Schokolade und Kaffee mit!« Eine Bonner Familie kam nach der


Скачать книгу