Erste am Seil. Caroline Fink

Erste am Seil - Caroline Fink


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beging Routen bis zum sechsten Grad. Risse und Kamine stieg Paula vor, alles andere Hans, in die Mitte kam jeweils der König, für dessen Durst Paula vier bis fünf Liter Wasser mittragen musste. Im Wilden Kaiser etwa hakten sie in dieser Formation die schwierigsten Routen ab. Einen der spannendsten Momente in ihrer Kletterlaufbahn dürfte Paula in der Fleischbank-Südostwand erlebt haben, als Hans in der «Wießner/Rossi» nicht mehr weiterkam und sie vorausschickte. Ihr gelang es, den Rossi-Überhang zu überwinden. Angeblich wurde sie danach von Dolomiten-Führern gebeten, nicht über diese Episode zu sprechen, um das Ansehen des Berufsstands nicht zu beschädigen.

      Den belgischen König zu führen war für den Bergführer und Skilehrer Hans Steger die beste Werbung, die er sich wünschen konnte. Nach dem Tod König Alberts – er stürzte 1934 in einem belgischen Klettergarten ab – war das Paar noch viele Jahre mit dessen Sohn Leopold III. unterwegs, und auch Prinzessin Joséphine, die 1927 geborene Tochter Leopolds, entwickelte sich zu einer guten Kletterin. Zudem wurde die deutsche Filmregisseurin und Schauspielerin Leni Riefenstahl auf die beiden aufmerksam und ließ sich in den Kletterszenen von «Das blaue Licht» (1932) und «Tiefland» (1940–1944) von Paula doubeln; Hans wurde als Kameramann engagiert. Auch privat gab es gemeinsame Klettertouren in den Dolomiten. Ab 1943 arbeiteten Hans und Paula mit Luis Trenker an dessen Film «Der verrufene Berg», in dem Paula die Skiszenen für Evi Maltagliati übernahm. Die verschiedenen Dreharbeiten im Wallis und im Montblanc-Gebiet ermöglichten den Stegers einerseits, große Westalpenrouten wie etwa den Peutereygrat zu unternehmen. Andererseits erscheint im Nachhinein die Zusammenarbeit mit einer dem Nationalsozialismus so nahestehenden Regisseurin problematisch, insbesondere bei dem erst 1954 uraufgeführten «Tiefland», für den Riefenstahl in Lagern inhaftierte Sinti und Roma zwangsrekrutieren ließ.

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      Paula Wiesinger scheint mehr Spaß am steilen Fels zu haben als Leni Riefenstahl (vorn).

      (Archiv Reinhold Messner, Meran)

      Während sie als Kletterin nur innerhalb der überschaubaren Bergsteigerszene bekannt war, legte Paula in den Dreißigerjahren noch eine zweite sportliche Karriere hin: als Skirennläuferin. Ihrer Leidenschaft für das Skifahren war es zu verdanken, dass sie 1931 überraschend Italienische Meisterin wurde – der Auftakt zu einer jahrelangen Siegesserie. Von Hans angeleitet, der ebenfalls ein erfolgreicher Abfahrts- und Torläufer war und ab 1932 die italienische Nationalmannschaft trainierte, wurde «La Paula», wie der Skistar in Italien bald nur noch genannt wurde, bis 1936 in den Disziplinen Abfahrt, Slalom und in der Kombination 15-mal Italienische Meisterin. Bei internationalen Rennen siegte sie unter anderem in Sestriere und Chamonix sowie in der Abfahrt und im Slalom des Arlberg-Kandahar-Rennens. Bei den Skiweltmeisterschaften 1932 in Cortina d’Ampezzo gewann sie in der Abfahrt die Goldmedaille und nahm 1936 an den Olympischen Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen teil. Auch an Skitourenrennen bewies sie ihre Leistungsfähigkeit: 1934 stellte sie an der Marmolada einen neuen Streckenrekord auf, der erst nach dem Krieg gebrochen wurde. Im selben Jahr fuhr sie beim Breithornrennen als einzige Frau in der Männerklasse mit und erreichte unter den hundert Läufern den zwölften Platz. Das Großglockner-Skirennen gewann sie zweimal, und 1935 schmuggelte sie sich unter die Teilnehmer der Trofeo Mezzalama. Zu diesem 45 Kilometer langen Rennen zwischen Matterhorn und Monte Rosa waren Frauen nicht zugelassen, doch als Paula, die den Anlass als Zuschauerin besuchte, erfuhr, dass im Team des Alpinisten Giusto Gervasutti ein Mitglied wegen einer Verletzung ausfiel, zog sie kurzerhand dessen Uniform an, tarnte sich mit Mütze und Skibrille und sprang für ihn ein. An einem der Kontrollposten flog der Schwindel allerdings auf – sie durfte das Rennen zwar beenden, blieb aber außerhalb der Wertung.

      Nicht nur im Schnee, auch im Wasser fühlte sich Paula in ihrem Element. Sie war eine begeisterte Schwimmerin und Turmspringerin und fuhr, als sie nach dem Krieg mit Hans auf der Seiser Alm lebte, einmal in der Woche nach Bozen, um dort vom Acht-Meter-Turm zu springen. Irgendwann kam ihr die Idee, sie könnte es auch noch etwas höher probieren – in München, wo es einen Zehn-Meter-Turm gab und wo sie regelmäßig waren, um Hans’ Familie zu besuchen. Meist nutzten sie diese Besuche auch für einen Trainingsausflug in den Klettergarten Buchenhain im Isartal, von dessen Konglomeratgestein Paula noch als 87-Jährige schwärmte: «Wenn man dort zwei Stunden intensiv kletterte, konnte man seinen Namen nicht mehr schreiben!» Was das Wasser anbetraf, schien Hans jedoch weniger draufgängerisch zu sein als im Fels. Er besorgte zwar für sich und seine Frau zwei Springgenehmigungen, die damals nötig waren, letztlich war aber Paula die Einzige, die sprang.

      Ein einziges Mal verließ allerdings selbst «La Paula» der Mut: als der Verkehrsverein Grindelwald die beiden einlud, sich die Eiger-Nordwand anzusehen. Natürlich fuhren sie ins Berner Oberland. Natürlich dachten sie darüber nach, einzusteigen. Als Paula jedoch unter der berüchtigten Wand stand, war ihr klar, dass sie dort keinen Fuß hineinsetzen würde.kst

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      (Archiv Ingrid Runggaldier, Bozen)

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      Als Älteste von fünf Geschwistern kam Paula Wiesinger am 27. Februar 1907 in Bozen zur Welt. Ihr Vater fiel im Ersten Weltkrieg. Um die Familie zu ernähren, arbeitete ihre Mutter als Köchin in Sterzing und lebte auch dort; die Kinder blieben bei den Großeltern in Bozen. Paula besuchte ihre Mutter oft und kam in Sterzing mit dem Bergsport in Berührung. Sie lernte den gleichaltrigen Gino Soldà kennen, der seinen Militärdienst als Grenzsoldat ableistete und bereits damals ein ausgezeichneter Skifahrer und Kletterer war. Er brachte Paula das Skifahren bei, sie fand Anschluss an andere Bergsteiger und stand im darauffolgenden Sommer auf zahlreichen Gipfeln rund um den Brenner. Den Lohn, den sie als Büroangestellte erhielt, sparte sie, um sich für den nächsten Winter eigene Ski kaufen zu können, denn sie war begeistert vom schnellen Gleiten durch staubenden Tiefschnee.

      In einem ihrer ersten Bergsommer entdeckte sie in der Rosengartengruppe, dem von Bozen aus nächstgelegenen Dolomitenmassiv, das Klettern für sich. Als ihr Seilgefährte zum Militär einberufen wurde, begann die junge Frau, in Eigeninitiative Ziele und Seilschaftspartner zu suchen. 1928 begegnete ihr beim Klettern im Rosengarten ihr späterer Ehemann Hans Steger, mit dem sie sich in den folgenden Jahren in die zu ihrer Zeit anspruchsvollsten Routen der Dolomiten wagte. Schon bald gelangen den beiden große Erstbegehungen, deren bekannteste der «Weg der Jugend» durch die Einserkofel-Nordwand (1928), jeweils eine «Steger» in der Ostwand der Rosengartenspitze, in der Südostwand der Punta Emma und in der Südwand des Winklerturms sowie die Pfeilerrisse in der Burgstall-Ostwand (alle 1929) sind. Außerdem gingen frühe Wiederholungen der Monte-Pelmo-Nordwand (2. Begehung), der Civetta-Nordwestwand (8. Begehung), der Nordkante des Hohen Zwölfers (2. Begehung) und des Südpfeilers der Marmolada di Penia (4. Begehung) auf das Konto der Seilschaft Steger/Wiesinger. In allen diesen Routen, die sich im sechsten Grad bewegen, war Paula die erste Frau. Ihr für die damalige Zeit herausragendes Kletterkönnen stellte sie jedoch vor allem dadurch unter Beweis, dass sie den damals höchsten Schwierigkeitsgrad nicht nur kletterte, sondern auch im Vorstieg überwand. Allein in den Dolomiten beging sie in den Jahren bis 1934 mindestens 62 verschiedene Felsrouten, davon 28 im fünften und sieben im sechsten Grad. Einige von ihnen kletterte sie mehrmals, zehn als Seilerste.

      Noch vor dem Zweiten Weltkrieg wurde das Ehepaar im touristischen Sektor tätig, Hans arbeitete als Skilehrer, Paula übernahm ein Hotel am Pordoipass. Nach dem Krieg erwarben die beiden die Dellaihütte auf der Seiser Alm und bauten sie zum Hotel Steger-Dellai um, das sie jahrzehntelang erfolgreich betrieben. Schon vor Hans’ Tod 1989 verfügten die Stegers, deren Ehe kinderlos blieb, die Gründung der Hans-und-Paula-Steger-Stiftung, die sich für die Erhaltung der Flora und Fauna der Seiser Alm und die Bergrettung in den Dolomiten einsetzt. Paula leitete das Hotel bis 1998; sie starb am 12. Juni 2001 im Alter von 94 Jahren.

      ALPINGESCHICHTE

      EIGENVERANTWORTLICH IN DIE BERGE:

      FÜHRERLOSE UND FRAUENSEILSCHAFTEN

      IM FRÜHEN 20. JAHRHUNDERT


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