Erste am Seil. Caroline Fink
Erler (Hrsg.): Den Bergen verfallen. Alpenfahrten von Eleonore Noll-Hasenclever. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Berlin 1932)
«Frau Noll schlug in den plattigen Felsen und vereisten Hängen ein derart flottes Tempo an, dass wir ihr kaum zu folgen vermochten. Man merkte es dieser Frau nicht an, dass sie einen der längsten und anstrengendsten Walliser Grate bezwungen hatte.» So anerkennend äußerte sich der erfahrene Münchner Steileiskletterer Willo Welzenbach nach der 1923 mit Hans Pfann als Seilschaftsdrittem ausgeführten Überschreitung vom Matterhorn zur Dent d’Hérens über seine Tourengefährtin Eleonore Noll-Hasenclever. Sie galt im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts alpenweit als die erfolgreichste Bergsteigerin. Doch Welzenbach bescheinigte ihr nicht nur eine «wohl einzigartige Leistungsfähigkeit», er hob auch hervor, dass sie sich auf dem gesellschaftlichen Parkett ebenso gewandt bewegte wie im alpinen Gelände: «Nach insgesamt viertägiger Bergfahrt zeigte sie am Abend nicht die geringste Müdigkeit. Lebhaft teilnehmend an allen Fragen, selbstsicher, liebenswürdig und gesprächig beherrschte sie auch an diesem Abend in gewohnter Weise die Gesellschaft.»
Die Begeisterung für die Berge wurde der 1880 in Duisburg geborenen und in Frankfurt aufgewachsenen Tochter aus gut situiertem Hause nicht in die Wiege gelegt. Um eine standesgemäße Erziehung zu erhalten, wurde sie in ein Mädchenpensionat nach Lausanne geschickt. Von einem Schulausflug nach Zermatt kehrte sie völlig fasziniert von der Bergwelt zurück und nützte in der Folge jede Gelegenheit, um sich in Richtung Alpen abzusetzen. Sie erkundigte sich nach dem besten Bergführer im Wallis, suchte Alexander Burgener im Saastal auf und engagierte ihn, um ihr das Bergsteigen beizubringen. Zu Anfang noch skeptisch, war der 54-jährige Führer bald von ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten überzeugt, mehr noch: Es entwickelte sich eine herzliche, freundschaftliche Beziehung zwischen dem neunzehnjährigen «Gamsli», wie Burgener sie nannte, und ihrem «Bergvater». Bereits 1899 standen die beiden auf dem Matterhorn, Gamslis erstem Viertausender.
Bei ihrer Mutter löste Eleonore Entsetzen aus, als diese die Tochter im Pensionat besuchten wollte, sie nicht antraf und ihr nach Zermatt hinterherreiste. Am Bahnhof entdeckte sie die junge Frau in Hosen und eine Zigarre rauchend, das Gesicht braun gebrannt, und als sie um eine Erklärung bat, erhielt sie die Antwort: «Ich bin Bergsteigerin, Mama!» Gegen Eleonores unstillbare Leidenschaft für die Berge war der Widerstand der Eltern zwecklos. Unter der Bedingung, dass sie mit dem Rauchen aufhörte, erhielt sie eine allen Ansprüchen genügende Bergausrüstung. Von nun an verbrachte sie jeden Sommer mehrere Wochen in den Schweizer Alpen oder im Montblanc-Gebiet und steigerte sich zu einer ausgezeichneten selbstständigen Bergsteigerin. Als sie 1908 mit Burgener das Bietschhorn bestieg, beeindruckte sie am Gipfel vor allem die Aussicht auf das Weißhorn: «Die stolzen Walliser, meist im gemeinsamen Kampf errungene Freunde, entfalteten sich in ihrer ganzen Schönheit. Das edle Weißhorn ist es, dem vor allem die Krone gebührt. Ihm galt unser besonders Interesse, planten wir doch für die nächsten Tage seine Besteigung.» In jenem Jahr konnte der Plan allerdings nicht mehr umgesetzt werden.
Nach einem gemeinsamen Aufstieg zur Aiguille Verte im Sommer 1909 schenkte Alexander Burgener dem «Gamsli» sein Führerabzeichen und forderte sie auf, von nun an führerlos bergzusteigen, da er ihr nichts mehr beibringen könne. Sein Vertrauen in ihr Können war so groß, dass er sie schon zuvor gelegentlich als zweiten Führer mitgenommen hatte. Den Rest des Sommers war Eleonore vor allem mit Richard Weitzenböck aus Graz sowie weiteren Bekannten unterwegs. In ihrem Bericht über eine Begehung des Roche fortgrats schilderte sie ein kurioses Zusammentreffen mit Touristinnen bei Montenvers: «Französinnen, in wallende Schleier gehüllt, balancierten auf hohen weißen Stöckelschuhchen über den schmalen Pfad, der in die Felsen gehauen ist. War das ein Quietschen! Die armen Führer hatten ihre helle Not. Und die Verachtung, mit der sie auf uns schwarz verbrannte Menschen herabschauten, deren Anzug von manchen Kämpfen mit Wind und Wetter, mit Felsen und Eis erzählte. Und dann ‹mon dieu, c’est une femme›, ‹mais non, c’est un anglais avec ces trois guides›, antwortete die andere. Da waren wir ganz oben auf, meine Kameraden als Führer und ich als Engländer.»
Eleonore Noll-Hasenclever lernte das Bergsteigen als junge Frau von ihrem «Bergvater», dem Saaser Führer Alexander Burgener.
(aus: Heinrich Erler (Hrsg.): Den Bergen verfallen. Alpenfahrten von Eleonore Noll-Hasenclever. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Berlin 1932)
Diese Begegnung verdeutlicht, dass Eleonore zwischen zwei Welten hin und her wechselte. Während sie im Tal eine gebildete und modisch gekleidete Dame war, die sich unter anderem intensiv für Kunst interessierte – in späteren Jahren besaß sie eine Kunstsammlung –, wurde sie im Gebirge zu einem «Menschen» mit undefinierbarem Geschlecht. Dort entsprach sie ganz und gar nicht dem traditionellen Rollenbild ihrer Zeit; im gewöhnlichen Leben aber war sie eine Frau der Gesellschaft, laut Felicitas von Reznicek «der hundertprozentige Beweis gegen die merkwürdige Vorstellung vieler Männer, dass Bergsteigerinnen wenig wohlriechende, grobknochige, reizlose Mannweiber sein müssen, wenn sie etwas leisten sollen». Nur der Übergang von der einen Welt in die andere verlief nicht immer glatt. So blieb sie einmal, frisch aus Frankfurt nach Gampel angereist, um mit Alexander Burgener das Bietschhorn zu besteigen, mit dem Absatz ihrer «zarten Stadtstiefelchen» in den Holzplanken der Rhonebrücke hängen, stürzte und schlug sich das Knie auf.
Von ihrem Selbstbewusstsein zeugt auch ihr Bericht von den Grandes Jorasses, die sie kurz nach dem Rochefortgrat überschritt. Auf der Pointe Walker kroch sie «auf allen Vieren bis zum Rande der Gipfelwächte und schaute die furchtbare Nordwand hinunter, die mich so sehr gelockt» und stellte sich – fast dreißig Jahre vor deren Erstdurchsteigung – die Frage: «Wann werde ich da hinaufsteigen?!» Als eigenständige Begeherin anspruchsvoller Routen war Eleonore zu ihrer Zeit eine absolute Ausnahmeerscheinung. 1910 wurde sie in den elitären Österreichischen Alpenklub aufgenommen und galt über Jahrzehnte hinweg als die führende Alpinistin. Über ihre Touren berichtete sie in diversen alpinen Publikationsorganen, und sie hielt beliebte Vorträge, auf denen sie selbst fotografierte Bilder zeigte und von ihren Erlebnissen berichtete – auch in der Absicht, ihre Geschlechtsgenossinnen für die Schönheit der Berge zu begeistern. Doch nicht genug, dass sie als Frau führerlos ging, sie führte auch mit großer Selbstverständlichkeit selbst, beispielsweise 1911 Johannes Noll, der ebenfalls aus Frankfurt kam und sie auf die Aiguille des Grands Charmoz begleitete. Die Seilschaft muss sich gut verstanden haben, denn in diesem Sommer folgten noch zahlreiche gemeinsame Gipfel: Dent du Géant, Aiguille du Moine, Aiguille de Blaitière, Tour Ronde, Petits Charmoz, Aiguille de l’M. Drei Jahre später heirateten die beiden, und 1916 wurde die Tochter Eleonore, genannt «Sternchen», geboren.
Mit ihrer Überzeugung, dass Frauen dazu fähig seien, selbstständig große Berge zu besteigen, machte sich Eleonore nicht nur Freunde. Als sie 1913 die junge Schweizer Ärztin Helene Sorin mit auf die Gipfel der Weißmiesgruppe nahm, wurde sie von den Saaser Bergführern als unliebsame Konkurrenz empfunden und feindselig behandelt. Sie fand ihr Seil zerschnitten vor – zum Glück war es nur das Reserveseil –, und beim nächtlichen Aufbruch fiel sie fast über einen «Kerl», der auf ihrer Türschwelle lag. Der Umgang mit einer Frau als gleichwertiger Alpinistin fiel den Männern offensichtlich schwer; als Eleonore wenige Tage später in Saas-Fee festsaß, weil sie auf gutes Wetter wartete, stellte sie fest, dass «inzwischen das Mißfallen, das wir führerlose Damen zuerst erregt hatten, in eitles Wohlwollen übergegangen war, so daß mir fast das Mißfallen lieber gewesen».
Mit dem Wiener Alfred Horeschowsky bestieg Eleonore Noll-Hasenclever 1922 das Täschhorn; als Abstieg wählten sie den Teufelsgrat.
(aus: Heinrich Erler (Hrsg.): Den Bergen verfallen. Alpenfahrten von Eleonore Noll-Hasenclever. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Berlin 1932)
Selbst Heirat und Familiengründung hielten Eleonore – nun Noll-Hasenclever – nicht davon ab, ihr freies Leben fortzusetzen. Unbekümmert setzte sie sich über gesellschaftliche Konventionen hinweg und kletterte weiterhin auch mit anderen Männern als dem ihr angetrauten. 1914 kehrte sie zum Weißhorn zurück, um endlich «diesen neben dem Matterhorn edelsten