Erste am Seil. Caroline Fink

Erste am Seil - Caroline Fink


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als die Winter-Erstbesteigung des zweithöchsten Massivs der Alpen, des mehr als 4600 Meter hohen Monte Rosa. Als sie in Zermatt erfährt, dass Vittorio Sella – erfolgreicher italienischer Bergsteiger und gleichzeitig einer der bedeutendsten Bergfotografen der Geschichte – zur selben Zeit dieselbe Absicht hegt, ist sie alles andere als erfreut. Sie schlägt vor, die beiden Teams zusammenzuschließen, und Vittorio Sella ist einverstanden. Zwei Tage später sind die beiden «Caravans» gemeinsam unterwegs am Monte Rosa.

      Doch das Wetter ist der italienisch-britischen Seilschaft nicht wohlgesinnt. Bald quälen sie sich auf 4200 Meter durch einen Schneesturm und entscheiden, den Gipfelversuch abzubrechen. Ein weiser Entscheid, wobei die Tour für Elizabeth auch so beinah in einer gesellschaftlichen Katastrophe geendet hätte: Noch während sie diskutieren, ob ein Abstieg wirklich sinnvoll sei, schreit einer der Führer auf einmal: «Die Nase von Madame, die Nase von Madame!» Und nur Sekunden später stürzen sich die anderen Führer auf sie, um ihre Nase mit vereisten Handschuhen zu reiben. Elizabeth ist perplex, doch die Führer lassen nicht von ihr ab, bis ihr Hauptführer Eduard Cupelin zufrieden ist und bemerkt: Jetzt sei die Nase wieder schön. Als Elizabeth erstaunt fragt, was er damit meine, antwortet er, sie werde gerade «ziemlich schwarz». Die Alpinistin selbst merkt aufgrund der Kälte nichts von ihrer Erfrierung. Erst als sie wieder im Tal ist, schmerzt ihre Nasenspitze tagelang, «als ob sie über einem Feuer geröstet würde».

      Anders als beim Monte Rosa, läuft bei der Besteigung des Bishorns – des schönen Gipfels rechts des Weißhorns – alles rund. Nach dem Abstieg vom Dom haben Josef Imboden und Elizabeth die Tour im Geheimen vorbereitet und Zermatt am 6. August 1884 verlassen. Es ist schönes Sommerwetter, als sie vormittags zusammen mit einem weiteren Führer Richtung Biwakplatz aufsteigen. Unterwegs rasten sie bei ein paar Holzhäusern, blicken auf den nahen Dom und das Täschhorn, auf das Bietschhorn und die Viertausender der Berner Alpen und lassen einige ihrer Feldflaschen mit Milch füllen. Doch danach bricht ein Sommergewitter über sie herein. Immer schneller hasten sie deshalb bergwärts, um endlich unter dem Schutz einiger Felsen, am Rand des Abberggletschers, ihr Biwak einzurichten.

      Dennoch kriecht Elizabeth abends zufrieden in ihren Schlafsack. «Ich stellte fest, dass es aufgehört hatte zu regnen und der Himmel immer klarer wurde», wird sie in ihrem Bericht festhalten. Um 2.30 Uhr bereiten sie gemeinsam das Frühstück vor, um 3.45 Uhr bricht die Dreierseilschaft auf. Steigt über Gletscher und Felsen – sie erfordern laut Elizabeth «beachtliche Gymnastik» – und erreicht um 6.40 Uhr das Bruneggjoch, einen vergletscherten Übergang, von dem aus sie über den weiten Kessel des Brunegggletschers blicken, hinüber zum Bishorn, das in der Morgensonne weiß leuchtet. Sie frühstücken nochmals, Josef Imboden inspiziert die Route, Elizabeth macht mehrere Fotografien. Danach deponieren sie eine Flasche Wein und die schwere Kameraausrüstung im Joch und queren den Gletscherkessel Richtung Bishorn.

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      Den Monte Disgrazia fotografierte Elizabeth Burnaby-Main-Le Blond vom Sissone aus – beide Gipfel bestieg sie im Winter als Erste.

      (Elizabeth Burnaby-Main-Le Blond)

      Es war nicht das einzige Mal, dass die Britin ihre Kamera mit ins Hochgebirge schleppte – oder schleppen ließ. Im Gegenteil. Sie gehörte zu den Ersten, die Bilder aus dem Hochgebirge mit ins Tal brachte. Darüber hinaus dokumentierte sie während ihren Aufenthalten im Engadin den aufkommenden Wintersport, fotografierte und filmte Eisläufer, Skifahrer und Rodler, porträtierte auf dem schwarzen Eis des Silsersees den Maler Giovanni Segantini und den Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle, verkaufte Bilder für wohltätige Zwecke und übernahm Auftragsarbeiten für Magazine und Reiseführer – wobei sie manche Führer auch gleich selbst schrieb. Gut zehn Jahre nach dem Bishorn publizierte sie zudem eine Abhandlung über ein Messverfahren, das sie zur korrekten Belichtung im reflektierenden Schnee entwickelt hatte. Anders als für ihre alpinistischen Leistungen wurde sie für ihre fotografischen Arbeiten öffentlich ausgezeichnet: Sie erhielt die Ehrenmedaille der Royal Photographic Society.

      Doch im Aufstieg zum Bishorn sind ihre Gedanken nicht beim Fotografieren. Erst ist sie irritiert darüber, wie brüchig und unangenehm die Felspassagen unter dem Gipfelgrat sind, danach freut sie sich über den schmalen Schneegrat und die Tiefblicke auf den Turtmanngletscher und die Dörfer weit unten im Mattertal. Es ist noch vor Mittag, als sie und die beiden Führer den Gipfel erreichen. Sie bauen einen Steinmann, schreiben ihre Namen auf einen Zettel und deponieren diesen in einer leeren Flasche. Elizabeth ist glücklich. Sie glaubt, den letzten noch unbestiegenen Viertausender der Alpen erreicht zu haben. Doch sie täuscht sich: Sie ist die Erste auf dem Ostgipfel des Bishorns – doch eben nur auf dem Ostgipfel. Die Seilschaft verpasste es, den 18 Meter höheren Hauptgipfel 250 Meter weiter östlich zu besteigen. Ein Missgeschick, zu dem sich Elizabeth nie öffentlich äußern wird. Ein Missgeschick allerdings auch, mit dem sie sich ein Andenken setzte: In Alpinistenkreisen heißt der Ostgipfel des Bishorns bis heute «Pointe Burnaby».

      Dass diese Mrs. Burnaby am Bishorn dieselbe war, die zehn Jahre später unter dem Namen Mrs. Main Bilder verkaufte und wiederum ein Jahrzehnt später als Mrs. Le Blond Bücher zu ihren Bergabenteuern schrieb – diese Tatsache führte dazu, dass Chronisten oft glaubten, es mit mehreren Frauen zu tun zu haben. Oder aber sich über ihre vielen Ehen mokierten und bemerkten, Elizabeth hätte Männer geheiratet, «als gäbe es kein Morgen». Warum genau die Britin sich dreimal für eine Ehe entschied, wissen wir nicht. Einzig gesichert ist: Elizabeths erster Mann, Colonel Fred Burnaby, fiel 1865 in der Schlacht von Abu Klea im Sudan.

      Ihr zweiter Mann, John Frederic Main, Ingenieur und Professor am Royal College of Science in London, zog nach der Heirat, angeblich aus gesundheitlichen Gründen, ins US-amerikanische Colorado, wurde dort, nicht zuletzt dank der Gelder von Elizabeth, zum Investmentbanker und starb sechs Jahre nach der Hochzeit in Colorado. In seinem Nachruf wird Elizabeth nicht erwähnt. Sie wird in ihrer Autobiografie von 1928 ihn ebenso wenig erwähnen. Nach John F. Mains Tod lebt Elizabeth acht Jahre lang allein und widmet sich – wie auch zuvor – allem voran dem Bergsteigen. Während drei Sommern reist sie mit ihrem Führer Josef Imboden nach Norwegen und unternimmt im Gebiet des Lyngenfjord 24 Erstbesteigungen. Und im Februar 1896 gelingt ihr mit der Winter-Erstbegehung des 3678 Meter hohen Monte Disgrazia südlich von St. Moritz eine ihrer wichtigsten alpinistischen Taten – eine Mordstour, die selbst manch lokalen Führer erstaunt. Von der Capanna del Forno gelangt die Britin mit den Bergführern Martin Schocher und Christian Schnitzler auf den Monte Sissone, steigt mehrere Hundert Meter durch lawinengefährliche Hänge ab und klettert danach auf den Gipfel der Disgrazia, um gleichentags via Monte Sissone in die Hütte zurückzukehren. Fazit dieses Tages: 20 Kilometer Distanz, 2100 Höhenmeter und zwei WinterErstbesteigungen.

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      Sollte der Teint doch einmal ladylike bleiben, gab es auch für Elizabeth Burnaby-Main-Le Blond nur eines: eine Gesichtsmaske.

      (aus: Daniel Anker et al.: Elizabeth Main (1861 – 1934). Diopter, Luzern 2003)

      Doch nur zwei Jahre später unternimmt sie eine noch außergewöhnlichere Tour: Zusammen mit ihrer Bekannten Evelyn McDonnel überschreitet sie den Piz Palü – führerlos und als erste Seilschaft der Sommersaison. Eine unerhörte Leistung in Anbetracht der Tatsache, dass cordées féminines, Frauenseilschaften, erst 25 Jahre später vermehrt in den Alpen auftauchen werden. Dass sie somit die wahrscheinlich erste Frauenseilschaft der Alpingeschichte auf einem großen Alpengipfel führte, wusste sie damals vermutlich nicht. Dass sie mit ihren Pioniertaten jeden gesellschaftlichen Rahmen sprengt, ist sie sich hingegen bewusst. Sie stört sich nicht daran, sondern schätzt vielmehr ihre Freiheit. Saust als eine der Ersten mit einem Fahrrad über die Engadiner Pässe, wobei sie bei Abfahrten ein Tännchen hinter sich herschleift, um das Fahrtempo zu drosseln. Und mokiert sich über Amerikanerinnen, die sich davor fürchten, nach einer Wanderung so sonnengezeichnet zu sein wie sie. Was andere von ihr halten, ist ihr egal. «Ich bin den Bergen über alles dankbar, mich von den Fesseln der Konventionen befreit zu haben», schreibt sie in ihrer Autobiografie. Das alles änderte nichts daran, dass sie als eine äußerst elegante Dame galt, die in Gesellschaft durch feine Umgangsformen auffiel und den damaligen Konventionen in Sachen Kleidung


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