Erste am Seil. Caroline Fink

Erste am Seil - Caroline Fink


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davon, was sie zwischen Wolkenfetzen sieht: «Überall Felszacken, zerborsten in alle möglichen Formen, mal ineinander gestapelt, mal nebeneinander geworfen in einem fantastischen Durcheinander.» Doch damit nicht genug. «Die Sonne schimmerte grell durch den Nebel, wie ein glimmender Feuerball. Dann, auf einmal entdeckten wir einen runden Regenbogen vor uns, in dessen Mitte wir selbst projiziert waren. Es schien nicht von dieser Welt zu sein, als wir die gigantischen Schattenfiguren sich genau so bewegen sahen, wie wir uns bewegten.» Meta hatte ein Brockengespenst gesehen, einen optischen Effekt im Nebel.

      Dank Metas Text wissen wir auch, dass danach keine Zeit mehr bleibt, die hochalpine Umgebung zu betrachten. Im Abstieg holt das schlechte Wetter die Seilschaft ein. Nachdem sie den Grat abgeklettert sind, stapfen sie in Sturm und Schnee über den Nestgletscher. Frei von Heldenpathos schildert die Alpinistin diesen Moment und betont, wie sie einzig dank der Almers am Rand des Gletschers eine Felsgrotte finden. In dieser übernachten sie. Ohne Decken und ohne Proviant, dafür mit Christian Almer, der die ganze Nacht lang jodelt, damit keiner im Schlaf zu erfrieren droht.

      Sie muss zäh gewesen sein, diese frühe Pionierin der Alpen. Je mehr Erfahrung sie hat, desto anstrengendere Touren unternimmt sie. So gehört sie drei Jahre nach ihrer Bietschhorn-Besteigung zu jener Garde, die den Winteralpinismus vorantreibt. Eine Spielart des Bergsport, die damals neu war und als besonders verwegen galt. Meta steigt als erster Mensch im Winter auf das Wetterhorn bei Grindelwald und eine Woche später auf die Jungfrau. Als sie im Sommer 1876 auf der Belalp weilt und Williams kränkliche Schwester Lil pflegt, beginnt Meta gar vom Everest zu träumen. Dies dank eines Ehepaars namens Walker, das im selben Hotel weilt, in Indien lebt und ihr eine Menge vom höchsten Berg der Erde erzählt.

      Für Meta ist der Everest kein Hirngespinst, sie erwägt tatsächlich eine Expedition in den Himalaja. Von den Walkers will sie jedes Detail zum Berg erfahren und schreibt ihrem Neffen in einem Brief: «Mr. Walker meinte, die Geographical Society würde uns unterstützen, falls wir einen Versuch am Everest unternehmen.» Sie ist mit dieser Idee ihrer Zeit weit voraus. Es sollte 46 Jahre dauern, bis die Briten 1922 eine erste erfolglose Everest-Expedition unternehmen, und 77 Jahre, bis Sir Edmund Hillary und Tenzing Norgay 1953 schließlich auf dem Dach der Welt stehen – ob die Briten George Mallory und Andrew Irvine 1924 vor ihrem Tod den Gipfel erreichten, bleibt bis heute offen. Doch im Dezember 1876 aber finden alle Pläne Metas ein Ende. In ihrem Haus im englischen Dorking erkrankt sie an akutem rheumatischem Fieber, infolge einer Streptokokkeninfektion. Die Entzündung greift ihr Herz an, und fünf Tage später stirbt sie. Hündin Tschingel wird sie um drei Jahre überleben, bevor auch sie – alt, mit grauer Schnauze und blind – vor dem Küchenfeuer für immer entschläft. William wird die beiden Seilgefährtinnen zeit seines Lebens vermissen, das Erbe seiner Tante aber jahrzehntelang fortführen. Als einer der wichtigsten Bergsteiger der viktorianischen Zeit wird er in die Geschichte des Alpinismus eingehen, bevor er als alter Mann, kauzig und stur, im Jahr 1926 die Welt verlässt. fin

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      (aus: Les Femmes Alpinistes, Annuaire du CAF, Paris 1899)

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      Margaret Claudia Brevoort, Meta genannt, wurde am 4. November 1825 in New York als fünftes von acht Kindern und drittes Mädchen geboren. Ihre Vorfahren waren um 1630 aus der holländischen Stadt Bredevoort nach New Amsterdam, später New York, ausgewandert. Dort kam die Familie dank Landbesitz in der Stadt zu einem Vermögen.

      Meta wuchs an der Fifth Avenue Nr. 21 auf. In ihrem familiären Umfeld fanden sich mehrere namhafte Persönlichkeiten. So war etwa ihr Vater Henry Brevoort eng mit dem Buchautor Washington Irving befreundet; ihr Bruder James Carson Brevoort präsidierte die Long Island Historical Society und führte die Astor Library in New York; eine Nichte heiratete den Schriftsteller Charles Astor Bristed, einen Nachkommen der schwerreichen Handelsfamilie Astor.

      Meta selbst erhielt als junge Frau eine ausgezeichnete Ausbildung in Paris und verbrachte in diesem Rahmen mehrere Jahre in Europa. Nach dem Tod ihrer Mutter 1845 und ihres Vaters 1848 kehrte sie nach New York zurück und zog ins Haus ihrer Schwester, verheiratete Coolidge, die unter einer schwachen Gesundheit litt. Deshalb kümmerte sich Meta von dessen Geburt an oft um den Sohn der Schwester, William Augustus Brevoort Coolidge. Daneben arbeitete sie in einem Spital New Yorks innerhalb einer protestantischen Gemeinde.

      Wieder zurück in Europa, unternahm sie gemeinsam mit dem jungen William größere Touren und startete ihre Karriere als Alpinistin. Unter anderem stand sie 1869 als erste Frau auf der Grandes Jorasses (4208 m), 1871 auf der Dent Blanche (4357 m), dem Weißhorn (4506 m) und dem Bietschhorn (3934 m) und traversierte als erste Frau das Matterhorn (4478 m), einige Wochen nachdem Lucy Walker ihr die erste Frauenbegehung des Matterhorns weggeschnappt hatte. Im Jahr 1870 gelang ihr die Erstbesteigung des Pic Central der Meije (3973 m) sowie 1874 die Winter-Erstbesteigung des Wetterhorns (3692 m) und der Jungfrau (4158 m). Nach kurzer Krankheit starb sie am 19. Dezember 1876 im englischen Dorking.

      ALPINGESCHICHTE

      DIE ENTDECKUNG DES ABENTEUERS:

      VON FRÜHEN BERGFAHRTEN ZUR

      GOLDENEN ZEIT DES ALPINISMUS

      In der Antike und im Mittelalter hatten die Alpengipfel eine andere Bedeutung für die Menschen als heute. Eine Terra Incognita waren sie, ein Land, das den Bewohnern so wild und fremd schien wie der Nordpol oder die Antarktis. Bergbewohner lebten mit den Bergen, nicht aber auf ihnen, und Reisende suchten sich den kürzesten Weg über Pässe wie den Septimer oder den Simplon, um das Gebirge möglichst schnell hinter sich zu lassen. Dennoch gab es immer wieder Menschen, die hinaufstiegen, die Gipfel zu entdecken. Die meistzitierte frühe Überlieferung einer Bergfahrt ist jene von Petrarca, wonach dieser 1336 auf den 1912 Meter hohen Mont Ventoux in der Pro vence gestanden hat. Erster dokumentierter weiblicher Gipfelerfolg ist jener der Adligen Regina von Brandis und deren Tochter Katharina Botsch, die zusammen mit Jakob von Boymont zu Payrsberg im Jahr 1552 auf der 2434 Meter hohen Laugenspitze in Südtirol standen.

      DIE KRAFT DER NEUGIER: WISSENSCHAFTER STEIGEN AUF BERGE

      Im 18. Jahrhundert dann stand bei Bergfahrten oft die von aufklärerischen Ideen geprägte Neugier im Vordergrund, die Welt wissenschaftlich zu verstehen. Ein Zugang zum Gebirge, der das Frauenbergsteigen nicht eben förderte: Frauen aus gehobenen Schichten waren vor gut 200 Jahren zwar durchaus gebildet, der Zugang zu akademischer Forschung und Lehre an den Universitäten blieb ihnen jedoch verwehrt. Gelehrte wie der Zürcher Johann Jakob Scheuchzer oder der Genfer Horace-Bénédict de Saussure beschäftigten sich derweil mit Paläontologie und Botanik, Geologie und Klima und wurden so zu frühen Bergsteigern. Fasziniert vom Montblanc, den er von Genf aus sehen konnte, schrieb de Saussure 1760 eine beträchtliche Summe für jenen aus, der als Erster den Gipfel des Berges erreichen oder zumindest eine passable Aufstiegsroute entdecken sollte. Im Jahr 1786 war es so weit: Der Führer Jacques Balmat und der Arzt Michel Gabriel Paccard, beide aus Chamonix, erreichten den Gipfel. Ein Jahr später stieg de Saussure auf den Berg und führte barometrische Messungen durch, die ihm bestätigten, dass er auf dem höchsten Gipfel der Alpen stand.

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      Henriette d’Angeville in ihrem Mantel mit Pluderhosen, den sie eigens für den Montblanc schneidern ließ.

      (Jules Hébert, Aquarell)

      Gut zwanzig Jahre später, im Juli 1808, erreichte die erste Frau den Gipfel des Montblanc: Marie Paradis (1778–1839) aus Les Houches, einem Nachbardorf von Chamonix. Im Gegensatz zu den männlichen Bergsteigern dieser Zeit, die meist aus einer gebildeten Schicht stammten, Ärzte, Gelehrte oder Pfarrer waren oder aber als Bergführer arbeiteten, war Marie ein Bauernmädchen. Gemäß der Überlieferung war es denn auch nicht ihre Idee, auf den Berg zu steigen, weshalb ihre Leistung später von Kritikern geschmälert wurde. Dennoch: Die junge Frau war verwegen genug gewesen, sich zu diesem Abenteuer


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