Der wilde Sozialismus. Charles Reeve
zum Scheitern verurteilt waren. Während er in der Theorie das widersprüchliche Verhältnis zwischen dem Autoritätsprinzip und einer Bewegung der gesellschaftlichen Selbstbefreiung aufzeigen konnte, blieb er selbst Gefangener des damals noch vorherrschenden jakobinisch-babouvistischen Aufstandsmodells. Spontanes Handeln erschöpfte sich für Bakunin in einem »Instinkt der Revolte«, der auf das Wirken von Berufsrevolutionären mit der besonderen Fähigkeit angewiesen blieb, den subversiven Gedanken ins allgemeine Bewusstsein zu heben. Ohne ein solches Eingreifen konnte es auch keine Selbstorganisation geben.
Die Kritik des Autoritätsprinzips schlug ohne Frage eine Bresche in die jakobinisch-hierarchische Gedankenwelt der sozialistischen Bewegung. In dieser setzte sich die Einschränkung der vollen Souveränität – das »Korrektiv«, das die permanente Repräsentation von Macht darstellte – als Unterordnung unter die Führung und als Blockade individueller wie kollektiver Fähigkeiten der Emanzipation fort. Die Unmöglichkeit einer ungeschmälerten Ausübung der Volkssouveränität, die Abwesenheit direkter Demokratie, ließ die Mängel des parlamentarischen Systems sowie die soziale Ungleichheit, auf der es beruhte, immer deutlicher hervortreten. Die repräsentative Demokratie erschien als Negation jeder Demokratie und nährte so das Verlangen nach gesellschaftlicher Emanzipation. Dreißig Jahre nach den ersten Andeutungen durch die Pariser Kommune musste die soziale Bewegung das System der Repräsentation aufbrechen, um solchen neuen Bedürfnissen konkret Rechnung zu tragen. Nur im Bruch mit dem Sozialismus der Führer und Apparate, auf wilde, ungezähmte Weise, konnte sie Gestalt annehmen.
KAPITEL 4
GENERALSTREIK ODER MASSENSTREIK?
DER REVOLUTIONÄRE SYNDIKALISMUS UND DAS BEDÜRFNIS NACH SELBSTREGIERUNG
SELBSTBILDUNG
Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Sozialdemokratie in Deutschland, Belgien, Holland und Russland die unangefochtene Hauptkraft in der organisierten Arbeiterbewegung. Als solche rückte sie von Marx’ Überzeugung, das kommunistische Bewusstsein werde aus dem Proletariat selbst hervorgehen, immer stärker zugunsten einer Konzeption ab, die die zentralistisch-hierarchische Partei als Trägerin des Klassenbewusstseins begriff. Bakunins Warnungen vor den widersprüchlichen Folgen des etatistischen Modells wurden ignoriert oder schlicht vergessen. In anderen Ländern, vor allem in Frankreich, Italien und Spanien, behielten antiautoritär-anarchistische Kräfte dagegen ein starkes Gewicht in der Arbeiterbewegung und widersetzten sich dieser Marschrichtung. Natürlich lehnte die Sozialdemokratie der Zweiten Internationale den Föderalismus zugunsten eines Zentralismus ab, der als Gewähr für Disziplin, Realismus, Effektivität und somit für die Stärke der Arbeiterbewegung galt – ein Argument, das der linke Flügel der russischen Sozialdemokratie, die Bolschewiki, sowie später die bolschewisierte Dritte Internationale übernahmen und das sämtliche avantgardistische Strömungen, Gruppen und Sekten bis heute anführen. Die Mittel, auf denen diese Effektivität beruhte, sahen die sozialdemokratischen Marxisten in keinerlei Widerspruch zu den Zielen, zumal das Erstarken ihrer Parteien in den Ländern, in denen sie die Bewegung dominierten, stetig und unaufhaltsam voranzuschreiten schien. Dieses Wachstum galt als Beweis dafür, dass die Führung die richtige Linie verfolgte und mit dem Strom der Geschichte schwamm. Wie Bakunin bemerkt hatte, maßten sich die »Chefingenieure« des Sozialismus an, Aufstände wie Maschinen steuern zu können; dass ihr autoritäres Agieren jede spontane Initiative von unten erstickte und früher oder später nur zur Lähmung von Bewegungen führen konnte, erkannten sie nicht. Damit entfernten sie sich von der Auffassung Joseph Dietzgens, eines Freundes von Marx, der eindringlich gemahnt hatte, ein Arbeiter, der an der Selbstbefreiung seiner Klasse teilnehmen wolle, müsse es zuallererst ablehnen, sich von anderen bilden zu lassen, und sich stattdessen selbst bilden. Genauso fremd war ihnen Bakunins Gedanke, dass die Revolution, »wenn sie in den Händen einiger regierender Personen konzentriert ist, […] unvermeidlich und unverzüglich zur Reaktion wird«.1 Im Namen ihres dirigistischen Programms betrieben die sozialdemokratischen Führer die »Schulung« der Massen mit den ihnen eigenen Mitteln – Partei und Gewerkschaft. Der geistigen und praktischen Selbstbestimmung der Individuen, ihrer Spontaneität, hielten sie die Autorität der »Wissenschaft« und die bürokratische Macht ihrer Organisationen entgegen. Dass deren Wachstum in die blinde Unterordnung der Arbeiterbewegung unter die Führer, ihre Lähmung im Angesicht der patriotischen Kehrtwende der Sozialdemokratie sowie schließlich in ihre Zerstörung durch das Kriegsgemetzel ab 1914 führen würde, schien undenkbar.
So wie die Pariser Kommune eine prägende Erfahrung für das sozialistische Denken gewesen war und die Kluft zwischen zentralistischen und antiautoritären Strömungen vertieft hatte, riefen die Streikbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts die scharfsinnigsten Köpfe der sozialistischen Bewegung auf den Plan, ließen die anarchistischen und antiautoritär-syndikalistischen Strömungen erneut zu wichtigen Protagonisten werden und erzeugten den ersten tiefen Riss in der Sozialdemokratie als dominierender Strömung des Marxismus. Sie eröffneten eine Phase lebhafter Debatten und weltanschaulicher Auseinandersetzungen, die bis zum Ersten Weltkrieg anhielten und mit der Bewegung der Sowjets und Räte auch noch die Zeit der Revolutionen in Russland und Deutschland prägten.
SOZIALDEMOKRATIE UND MASSENSTREIKS
Die großen Streiks, die um die Jahrhundertwende in westeuropäischen Ländern, insbesondere in Belgien und Holland, ausbrachen, stießen sofort auf die Ablehnung der sozialdemokratischen Mehrheitsgewerkschaften. In der Spontaneität dieser Bewegungen, in der Initiative und direkten Aktion der Arbeiter, sahen die Gewerkschaftsführer eine erhebliche Gefahr für den vorgezeichneten Weg eines von oben gesteuerten, schrittweisen Übergangs zum Staatssozialismus. Dass die Streiks Massen von Arbeitern vom traditionellen Gehorsam gegenüber den Partei- und Gewerkschaftsspitzen abbrachten, entging ihnen nicht.
Eine Minderheit radikalerer Sozialisten, die den Streikbewegungen aufgeschlossen gegenüberstand, reagierte von der Führung völlig unerwartet mit vehementer Kritik auf diese Linie. Die massenhafte Auflehnung der Arbeiter setzte eine solche Kraft frei, dass die Parteiloyalität und -disziplin bis in die Führungsriegen hinein aufgebrochen wurde und eine ungekannte Dissidenz um sich griff. Da die sozialdemokratischen Parteiapparate und die auf Ausgleich bedachten großen Gewerkschaften, die nun von spontanen Bewegungen herausgefordert wurden, traditionell eng miteinander verflochten waren, näherten sich die Dissidenten unabhängigen, teilweise sogar anarchistisch orientierten kleineren Gewerkschaften an. In Holland brach eine von bekannten sozialdemokratischen Politikern und Theoretikern wie Herman Gorter und Anton Pannekoek angeführte Strömung um die Zeitschrift De Tribune bereits 1909 mit der sozialdemokratischen Partei, weil sie deren Haltung zu den neuen Streiks ablehnte. Der belgische Generalstreik von 1902 und der konservative Kurs der großen Gewerkschaften hatten auch in Deutschland zur Folge, dass eine kleine, aber einflussreiche Fraktion, zu der unter anderem Rosa Luxemburg gehörte, die Taktik des mächtigen SPD-Apparats hinterfragte. 1908 war Luxemburg allerdings noch davon überzeugt, ein Bruch mit der Partei bedeute unweigerlich, den Kontakt zu den Massen zu verlieren. Eine solche schmerzhafte Situation stand ihr zwar bereits vor Augen, vorerst hielt sie aber fest: »Die schlechteste Arbeiterpartei ist besser wie keine.«2 Was die Dissidenten in Holland und Deutschland antrieb, waren vor allem zwei Motive: Man musste die neuartige »revolutionäre Energie«, die sich in den großen Streiks zeigte, zunächst einmal zur Kenntnis nehmen und zweitens ihre Potenziale politisch analysieren.
Die Debatte, die sich durch eine in der Burgfriedenspolitik und Massenschlächterei des Ersten Weltkriegs mündende Krise der Sozialdemokratie zog, soll hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden.3 Stattdessen geht es uns um das Verhältnis der neuartigen Orientierung radikal-marxistischer Fraktionen zu den Vorstellungen des revolutionären Syndikalismus. Beide entwickelten sich parallel zueinander. Was sie möglich machte und antrieb, war ein Zyklus sozialer Kämpfe im frühen 20. Jahrhundert, der im Gefolge der Russischen Revolution von 1905 eine Strömung hervorbrachte, die ausgehend von der Sowjetbewegung traditionelle Vorstellungen hinter sich ließ.
Im frühen 20. Jahrhundert vollzog sich ein Umbruch, der zunächst einer des Kapitalismus war: Die industrielle Revolution beschleunigte sich durch technische