Der wilde Sozialismus. Charles Reeve
stand der Gedanke einer direkten Souveränität der Arbeiter, einer Überwindung von Vermittlungen, Systemen der Repräsentation und dauerhafter Delegierung von Macht.
Liest man die Analysen zeitgenössischer radikaler Marxisten wie Rosa Luxemburg oder Anton Pannekoek, die beide den spontanen »Massenstreik« befürworteten, dann fällt die Vehemenz auf, mit der sie sich vom revolutionär-syndikalistischen Gedanken des »Generalstreiks« abzugrenzen versuchten. Das war geradezu obligatorisch, um in den sozialistischen Organisationen Gehör zu finden und dem Vorwurf zu begegnen, man sei zu den 1896 aus der Internationale ausgeschlossenen Strömungen übergelaufen. Besonders wichtig war ihnen dabei, der revolutionär-syndikalistischen Organisation die Fähigkeit abzusprechen, als »das Instrument des sozialen Krieges« und der Revolution aufzutreten. Für marxistische Sozialdemokraten blieb diese Aufgabe bekanntlich der Partei vorbehalten – auch für diejenigen, die zur Dissidenz gegenüber dem »offiziellen« Marxismus der Sozialdemokratie tendierten, aber noch vom Gedanken der Führungspartei geprägt blieben. Das gilt selbst für jemanden wie Pannekoek, trotz des Einflusses, den Domela Nieuwenhuis auf ihn gehabt hatte, der als bedeutendster Vertreter des holländischen »libertären Sozialismus« den Generalstreik propagierte.
Interessanterweise bestand in der Gewerkschaftsfrage eine Nähe zwischen solchen Marxisten und einigen Theoretikern des Anarchokommunismus. Errico Malatesta zum Beispiel, einer der umtriebigsten und anerkanntesten Köpfe dieser Strömung, wies in einer stichhaltigen materialistischen Analyse die Vorstellung zurück, die Institution Gewerkschaft könne sich in ein revolutionäres Organ verwandeln. Auf dem anarchistischen Kongress in Amsterdam 1907 erwiderte er dem CGT-Vertreter Pierre Monatte: »Der Syndikalismus, […] selbst wenn er sich mit dem Adjektiv ›revolutionär‹ schmückt, kann nichts anderes sein als ein legaler Zusatz, eine Bewegung, die gegen den Kapitalismus auf dem wirtschaftlichen und politischen Terrain kämpft, das Kapitalismus und Staat ihr aufzwingen. Es gibt daher keinen anderen Ausweg, und es kann nichts Dauerhaftes und Allgemeines erreicht werden, wenn nicht dadurch, dass er aufhört, Syndikalismus zu sein.« Und weiter: »Entgegen allen Erklärungen seiner glühendsten Anhänger enthält der Syndikalismus, aufgrund des Charakters seiner Funktionen, sämtliche Elemente der Degeneration, die die Arbeiterbewegungen der Vergangenheit korrumpiert haben. […] Mit einem Wort: Die Arbeitergewerkschaft ist ihrem Wesen nach reformistisch und nicht revolutionär.«11 Malatesta und andere Anarchokommunisten schrieben sich deshalb die Rolle zu, in die Gewerkschaften »revolutionären Geist hineinzutragen«, womit sie ihrerseits einem dirigistischen Prinzip folgten und sich zur Trennung zwischen gewerkschaftlicher Organisation einerseits und anarchistisch-politischer andererseits bekannten.
Die theoretischen Trennungslinien zwischen radikalen Marxisten und revolutionären Syndikalisten waren auch aufgrund einer unter Hochspannung stehenden realen Bewegung nicht immer klar bestimmt. Wenn Luxemburg zum Beispiel darauf beharrte, das Proletariat könne sich seine politische Bildung allein »aus der lebendigen politischen Schule, aus dem Kampf und in dem Kampf, in dem fortschreitenden Verlauf der Revolution«12 aneignen, wich sie damit nicht grundsätzlich vom Diskurs der CGT ab, der die direkte Aktion auch als ein Moment der Selbstbildung von Arbeitern begriff. Zwar hielt Luxemburg an dem Gedanken fest, eine spezifisch politische, von den Gewerkschaften getrennte Organisation sei notwendig, doch indem sie darstellte, wie Spontaneität nicht aus dem Nichts, sondern durch frühere Praxis und Ideen, aus den Erfahrungen der gesellschaftlichen Bewegung entstehe, begann sie die Führungsfunktion der Partei differenzierter zu fassen. Die Arbeiterklasse habe nunmehr die Fähigkeit und müsse »sich selbst im Laufe des revolutionären Kampfes aufklären, selbst sammeln und selbst anführen«.13 Mit der Überzeugung, dass »das ökonomische und das politische Moment unmöglich voneinander zu trennen sind«, ja »zwischen beiden eine völlige Wechselwirkung« bestehe, unterschied sie sich kaum vom revolutionären Syndikalismus.14 Auf der anderen Seite bezog Luxemburg immer deutlicher gegen die autoritären Konzeptionen des sozialdemokratischen Marxismus Stellung. So betonte sie seine »Überschätzung und die falsche Einschätzung der Rolle der Organisation im Klassenkampf«, die zumeist mit einer »Geringschätzung der unorganisierten Proletariermasse und ihrer politischen Reife« einhergehe, und kritisierte den Anspruch der Partei, das »Kommando« zu führen.15 Mit der Feststellung schließlich, dass »unser Organisationsapparat und unsere Parteidisziplin sich einstweilen noch besser im Bremsen als im Führen großer Massenaktionen bewähren«, vollzog Luxemburg in ihrem Denken einen wichtigen Schritt, der einen Bruch mit der Sozialdemokratie nicht nur denkbar, sondern unausweichlich erscheinen ließ.16 Die späteren Debatten während der Novemberrevolution von 1918 waren in dieser Kritik der zur Bremse gewordenen Führungspartei de facto in Keimform bereits enthalten. 1918/19 gingen radikale Marxisten dann dazu über, die Notwendigkeit der doppelten Organisation, und damit die Trennung zwischen politischem und ökonomisch-gewerkschaftlichem Kampf, infrage zu stellen und einheitliche Organisationen in den Betrieben aufzubauen.
DER TRIUMPH DER GEWERKSCHAFTLICHEN INTEGRATION UND SEINE KEHRSEITEN
Von 1902 bis 1908, als er sich noch auf massive Streiks und Demonstrationen stützen konnte und praktisch ein Klima des Aufstands herrschte, war der revolutionäre Syndikalismus mit einer gewaltsamen, blutigen Repression konfrontiert, die fatale Folgen hatte. In Frankreich zog die Schwächung der CGT am Vorabend des Ersten Weltkriegs das Scheitern der antimilitaristisch-internationalistischen Bewegung nach sich, in der viele ihrer Mitglieder aktiv waren.17 Dasselbe spielte sich etwas später in Amerika ab, wo eine regelrechte Terrorkampagne von Polizei und Unternehmern die IWW dezimierte, die dem Kriegsgemetzel das Banner des Internationalismus entgegenzuhalten versuchten.18
Für die herrschenden Klassen stand immer außer Frage, dass die Gewerkschaftsbewegung jenes »Element der gesellschaftlichen Konservierung« werden musste, von dem Malatesta gesprochen hatte. Mit aller Kraft stemmten sie sich daher dem Vormarsch eines Syndikalismus entgegen, der aus Gewerkschaften eine revolutionäre Waffe machen wollte. Erst mit dessen Auslöschung begann die Ära einer auf Verhandlungen, Verantwortung und Integration geeichten Gewerkschaftsbewegung.
Dreißig Jahre später kam Anton Pannekoek auf den Gegensatz zwischen diesen zwei Formen von Gewerkschaftsbewegung zurück und hob dabei vor allem ihre unterschiedlichen Auswirkungen auf das Bewusstsein hervor. Der Triumph der gewerkschaftlichen Integration war laut Pannekoek unabdingbar dafür, dass die Interessen der Kapitalistenklasse als die allgemeinen Interessen der Gesellschaft akzeptiert werden: »Erstens, weil damit den Arbeitern die Illusion belassen wird, daß sie Herren ihrer eigenen Interessen sind. Zweitens, weil die starke Bande der Anhänglichkeit, die sich zwischen Gewerkschaften und Arbeitern aus der Tradition früherer Kämpfe ergeben haben, als eigene Schöpfung der Arbeiter, ihrer Opfer, ihres Kampfes und ihrer Begeisterung nachwirken und nun den Herren zugute kommen.«19 Im Verhältnis zu Gewerkschaften, deren Streiks in offiziell anerkannten Bahnen ablaufen, und andererseits zur Selbstorganisation spontaner Streiks wertete er den revolutionären Syndikalismus als eine »Zwischenform«. Besonders mit Blick auf die Geschichte der IWW argumentierte Pannekoek, solche Zwischenformen seien »Versuche […], die Gewerkschaftsbewegung durch Beseitigung ihrer Übelstände und Einhalten ihrer richtigen Grundsätze zu einem brauchbaren Kampfmittel umzubilden, die Führerschaft einer Beamtenbürokratie zu vermeiden, die Trennung durch enge Berufs- und Gewerbeinteressen aufzuheben und die Erfahrungen früherer Kämpfe zu bewahren und auszunutzen«.20 Aus Sicht des Rätetheoretikers waren Gewerkschaften dieses Typs nicht an eine bestimmte historische Phase gebunden, sondern konnten in ähnlicher Form auch zukünftig auftreten, besonders in Momenten einer Krise des modernen Kapitalismus. Bestimmte Umstände könnten die Ausgebeuteten vorübergehend dazu bewegen, über den lähmenden »Realismus« der integrierten Gewerkschaften hinauszugehen, aber zugleich an der Form als solcher festzuhalten und folglich kleine »kämpferische« Gewerkschaften zu gründen.
Mit dem voluntaristischen Vorhaben, Gewerkschaften zu Organisationen der direkten Aktion und des Umsturzes zu machen, stand der revolutionäre Syndikalismus in der historischen Nachfolge extremer Strömungen in der Französischen Revolution und in der Pariser Kommune. Was sich in ihm ausdrückte, war ein Bedürfnis nach umfassender und direkter Macht der Ausgebeuteten, der Gedanke der Selbstaufklärung durch die gemeinsame direkte Aktion sowie die Weigerung, die Macht an