Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12. Heiko Hentschel

Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12 - Heiko  Hentschel


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      Originalcopyright © 2019 Südpol Verlag GmbH, Grevenbroich

      Autor: Heiko Hentschel

      Umschlaggestaltung und Illustrationen: Heiko Hentschel

      E-Book Umsetzung: Leon H. Böckmann, Bergheim

      ISBN: 978-3-96594-016-1

      Alle Rechte vorbehalten.

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      Für Michael

      Der Nebel war dick wie Bohnensuppe. Er kroch in jeden Winkel der Stadt Riddersiel und hielt den Hafen fest im Griff. In der Ferne erklangen gedämpfte Hörner, tief und durchdringend. Das Signal der Nachtwächter.

      Sämtliche Anwohner und Schutzmänner waren am 18. No­­vem­­­­­­ber des Jahres 1811 auf den Beinen. Sie suchten im Morgen­­­grau­en die Straßen mit Spürhunden ab. Kein Winkel wurde aus ge­lassen, keine Nische übersehen. Heisere Stimmen riefen Na­­men. Mädchennamen. Josephine, Dorothee, Anne, Marie. Und noch viele, viele mehr.

      Begonnen hatte es vor einem Monat. Da verschwand das erste Mädchen. Mitten in der Nacht. Spurlos. Seitdem war kaum ein Morgen vergangen, an dem die Liste vermisster Mädchen nicht stetig angewachsen wäre. Die Stadtwache zählte nunmehr über dreißig Familien, deren Töchter wie vom Erdboden verschluckt waren. Und heute, in den frühen Morgenstunden, war der Liste ein weiterer Name hinzugefügt worden: Sophie Albrecht.

      Greta Albrecht rannte. Schon seit Tagen hatte sie beunruhigen­­de Geschichten aus der Nachbarschaft gehört. Erst gestern hatte ihr die Nachbarin Frau Weber unter Tränen erzählt, dass ihre Nichte in der Nacht zuvor verschwunden sei. Das Fenster war von außen aufgebrochen und das Bett zerwühlt gewesen. Greta war die Angst um ihre Tochter Sophie durch Mark und Bein gefahren. Jetzt verfluchte sie sich. Hätte sie doch nur in dem Augenblick Riddersiel verlassen, als das erste Mädchen aus ihrem Viertel vermisst worden war.

      Sie lief vorbei an durchweichten Säcken mit Kohle und Ge­­treide. Der Nebel hüllte alles ein und verlieh selbst den ein­­­­­fachs­­ten Dingen etwas Gespenstisches. Fischernetze, die zum Flicken aufgespannt waren, verwandelten sich in riesige Spinnen­­­­­netze, mannshohe Kisten und Fässer wurden zu steiner­nen Riesen, die sie stumm und reglos beobachteten. Greta war sich sicher, dass sie ein unheimliches Eigenleben entwickelten, kehrte man ihnen den Rücken zu. Sie zitterte unter ihrem Umhang. Der nasse Schlafrock klebte ihr wie Pech an den Beinen. Sie rannte durch den Nebel, das glitschige Pflaster unter ihren Sohlen und den Gestank von Fisch­ab­­fällen in der Nase.

      »Sophie? Wo bist du? Sophie!«

      Sie lauschte, doch sie vernahm nur das monotone Klopfen der Fischerboote im Hafenbecken und weit hinter ihr all die anderen Stimmen, die nach ihren Töchtern riefen. Aber auch sie bekamen keine Antwort.

      Gretas Laterne leuchtete tapfer gegen den kalten Dunst an, auch wenn ihr kümmerlicher Schein bereits nach wenigen Zen­time­­tern verschluckt wurde. Sie suchte weiter. Sie durfte nicht aufgeben!

      In den vergangenen zwei Wochen hatte Greta auf der Straße immer wieder Getuschel gehört. Die Menschen hatten in den Nächten etwas gesehen. Dunkel und groß, mit riesigen Flügeln. Ein Ungeheuer. Humbug!

      »Sophie! Wo bist du nur?«

      Da, ein Geräusch! Ein Rascheln hinter einer Kiste. Ein Schatten löste sich und schlich durch den Nebel.

      »Sophie?«

      Der Schatten huschte davon. Greta lief hinterher, aber bereits nach wenigen Metern blieb sie wie angewurzelt stehen.

      Der gewaltige Bug eines Schiffes ragte, spitz wie ein Dorn, über ihr aus dem Nebel hervor.

      Ein Schiff wie dieses hatte sie noch nie gesehen. Es hatte mit den gedrungenen grauen Einmastern, die sich nur für den Fischfang eigneten, nichts gemein. Nein, dieses hier war elegant, schlank und schwarz wie die Nacht. Zahlreiche Verzierungen und Schnitzereien waren in den Rumpf eingelassen, der wie dunkler Samt schimmerte. Doch irgendetwas wirkte seltsam falsch. Greta brauchte einen Moment, um es zu verstehen. Das finstere Holz schien sämtliche Helligkeit aus der Umgebung in sich aufzusaugen. Keine einzige feuchte Stelle befand sich am Bug, keine Reflexion zeichnete sich ab. Weder auf dem nassen Steg noch im Wasser. Wie ein schwarzer Fleck verschlang das Schiff das fahle Licht der Morgendämmerung und gab es nicht wieder her.

      Greta spürte einen Windhauch im Nacken. Da war er wieder, der Schatten.

      »Sophie?«

      Niemand. Keine Sophie. Keine Menschenseele. Sie wandte sich wieder dem Schiff zu und direkt vor ihr stand plötzlich ein Mann wie eine Statue im Nebel. Zuerst glaubte Greta, einen der Nachtwächter vor sich zu haben, doch sein Aufzug ließ die strenge Uniform, den Laternenanzünder und das Signalhorn ver­­­­­missen. Stattdessen trug er einen langen, dunklen Mantel, dessen Kragen hochgeschlagen war, bis über Mund und Nase. Zwei bernsteinfarbene Augen funkelten wie Perlen unter einem Schlapphut hervor.

      »Grundgütiger, Sie haben mich erschreckt, mein Herr.« Greta senkte die Laterne. »Ich suche meine Tochter. Sie heißt Sophie. Haben Sie sie gesehen? Ein kleines Mädchen von sechs Jahren, mit flammend roten Haaren.«

      »Nein.« Die Antwort klang gedehnt, so als käme der Mann nicht von hier. Vielleicht aus dem Norden. Etwas Starres lag in seinem Blick. Er wandte sich ab und schritt auf den Steg des schwarzen Schiffes zu.

      Greta eilte hinterher. »Sind Sie sicher? Bitte, meine Tochter trägt ein weißes Nachtgewand mit kleinen Rosen am Saum und sie –«

      »Ich habe sie nicht gesehen. Und jetzt verlassen Sie unser Schiff. Wir legen ab.« Wieder diese seltsame Betonung in der Stimme. Es klang hart. Ohne Gefühl.

      Greta blickte nach unten. Sie war dem Fremden auf den Steg gefolgt und wich nun hastig zurück. »Verzeiht mir, mein Herr.« Als sie wieder aufsah, war der Mann in einer finsteren Öffnung an der Backbordseite verschwunden.

      Ein metallisches Geräusch erklang. Irgendwo im Inneren wurde ein Mechanismus ausgelöst, der Ketten rasseln ließ. Schwer­­fällig hob sich der Steg und mit einem dumpfen TOMB! schloss sich die Eingangsluke. Der Anker wurde gelichtet und das Schiff glitt hinaus aufs Meer.

      Ein Schauer erfasste Greta. Nässe und Kälte krochen unter ihren Umhang. Sie durfte nicht stehen bleiben, sie musste weitersuchen und begann zu laufen. »Sophie? Wo bist du, Sophie?«

      Der Nebel verschluckte zuerst die verzweifelte Mutter, dann das Leuchten ihrer Laterne und schließlich auch ihre Stimme, die sich wieder unter all die anderen Suchenden mischte.

      *****

      Das Innere des Schiffes war ein Labyrinth verwinkelter Korri­dore. Sie schienen schier endlos zu sein und wurden von Fackeln mit violettem Schein schwach erleuchtet. Auch hier saugten die dunklen Wände das Licht auf wie ein Schwamm.

      Der Mann mit den Bernsteinaugen beschleunigte seine Schritte. Links und rechts lösten sich Schatten aus den Nischen. Lautlos erschienen maskierte Soldaten, standen an den Seiten stumm Spalier. Der Mann ignorierte sie. Sein Blick war auf die hohe Doppel­tür gerichtet, die sich vor ihm öffnete. Er hatte sein Ziel erreicht und trat in die vor ihm liegende Messe. Das Herz des Schiffes.

      Der Saal war finster, weit und leer. Weder Bänke noch Tische oder Fenster waren zu sehen. Das einzige Licht fiel in einem senkrechten weißen Strahl durch ein Loch im Zentrum der Decke auf ein rundes Podest. Und dort, in der Mitte der Messe, stand sie. Seine Herrin. Die Komtesse.

      Eine kleine, puppenhafte Gestalt, einsam


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