Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12. Heiko Hentschel

Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12 - Heiko  Hentschel


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Augen wurden groß. Oh nein, bitte nicht.

      Ein letztes Mal mähte das rasende Ding einen Schornstein um. Etwas löste sich, flatterte vom Sturm getragen direkt auf Moritz zu. Er fing es auf. Konstanzes Haarband.

      Das Ungetüm hatte das Ende des Daches erreicht und sprang. Ein Blitz zerfetzte den Himmel.

      Die Flügel spannten sich. Das Monstrum segelte vom Dach des Waisenhauses durch den Regen davon, Konstanze in seinen Fängen.

      Moritz stolperte, stürzte zu Boden. Er schlug hart auf und schlitterte unkontrolliert das Dach hinunter. Auf der linken Seite sah er einen Schornstein, dahinter ging es in die Tiefe. In letzter Sekunde verlagerte er sein Gewicht. Der Schlag gegen die Brust nahm ihm den Atem, doch der Schornstein stoppte ihn gerade noch rechtzeitig.

      In der Ferne konnte er die Umrisse des Ungetüms sehen, dunkel und verschwommen.

      »Konstanze«, murmelte er, seine Finger krampfhaft um das nasse Haarband geschlossen. Das war sein einziger Gedanke, bevor er das Bewusstsein verlor.

      Konstanze.

      Er konnte sie sehen.

      Sie trat aus der Dunkelheit.

      Stumm in ihr Nachtgewand gehüllt.

      Weißes Licht fiel auf ihr Gesicht.

      Ein Schatten näherte sich.

      Kroch wie Pech über ihre starren Züge.

      Verschluckte sie.

      Ganz.

      Konstanze erwacht. Sie ist nicht mehr als ein kleiner Funken, der in der Dunkelheit schwebt. Ein Geist ohne Körper, Gesicht oder Erinnerung. Alles, was noch an ihr haftet, ist ein Gedanke, ein Name: Moritz. Sie kennt weder seine Bedeutung noch seine Herkunft. Doch er ist tief in ihr eingebrannt, wie ein Mal. Langsam treibt der zitternde Hauch, der einmal Konstanze gewesen ist, durch die Finsternis, die endlos und kalt ist. Die Kälte eines dunklen Sees, ohne Grund, ohne Leben. Doch, da ist Leben. Kümmerlich und fein bewegt es sich überall. Es müssen Hunderte sein, vielleicht Tausende. Genauso winzig und geisterhaft wie sie, aber ebenso lebendig und atmend. Im nächsten Moment erstarrt alles. Etwas hat sich verändert. Etwas ist anwesend und bemächtigt sich ihrer Stimme. Es regt sich in der Dunkelheit und alle müssen ihm gehorchen. Direkt vor ihr schlägt das Etwas seine Augen auf. Gleißendes Licht durchzuckt die Finsternis. Ein grausamer Mund öffnet sich.

      Behutsam setzte die Komtesse ihre Maske wieder auf und begann zu sprechen. Unzählige Mädchenstimmen erklangen im Chor. Und Konstanze war nun eine von ihnen.

      Am Morgen nach dem Sturm erschien die Welt grell und laut. Die Straßen waren voll von alldem, was das Unwetter mit sich ge­rissen hatte. Zäune und Karren lagen in den Seitengassen und machten ein Durchkommen unmöglich. Wagenladungen ver­­dreck­­ter Wäsche klebten an Häuserwänden und Fensterläden. Eine einsame Unterhose zierte das Eingangsschild der Stadt­wache.

      Drinnen tobte das blanke Chaos. Ein Dutzend Menschen hatten sich vor dem breiten Tresen versammelt und diskutierten aufs Heftigste miteinander. Mittendrin, eingequetscht zwischen Rücken, Ellenbogen und dem bis zum Platzen geschnürten Mieder einer drallen Dame, stand Moritz. Er war bleich, hatte tiefe Augenringe und seine Lippen waren leichenblau.

      Bereits den ganzen Morgen über hatte er nach Hilfe gesucht. Im Waisenhaus war er weggeschickt worden, denn alle waren viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Sturmschäden zu beseitigen. Aber die Wachmänner würden ihm helfen. Sie mussten einfach!

      Er hatte sich schon bis nach vorne zum Tresen durchgekämpft, als ihn zum zweiten Mal der Ellenbogen des Mannes traf, der ihm die Sicht blockierte. Er schrie nicht nur am lautesten, sondern schleuderte eine übel riechende Bierfahne in die Gesichter aller Anwesenden.

      »Der Wagen kam aus der Seitengasse und hat meinen Karren gerammt. Und nun frage ich Sie, mein Herr, wo waren die Wachleute da?«, rief er, während sich ein stattlicher Rülpser seinen Weg die Kehle hinauf suchte.

      Sofort zwängte sich die dralle Dame nach vorne und schob Moritz beiseite: »Zuerst der Sturm und heute Morgen klaut mir jemand meinen Apfelwagen. Das darf doch nicht wahr sein!«

      Der zuständige Wachtmeister kratzte sich seinen gewaltigen Backenbart. Er tauschte einen Blick mit seinem jüngeren Kollegen, der hinter ihm den Bretterwall vor den Fenstern entfernte. Dies war alles andere als ein gewöhnlicher Morgen.

      »Jetzt mal ganz ruhig. Jeder kommt ja an die Reihe.«

      »Mein Apfelkarren ist weg!«, hob die dicke Dame wieder an. »Der Dieb ist sicher schon über alle Berge, nur weil Sie hier unsere wertvolle Zeit verplempern!«

      Sie erdrückte Moritz fast. Glücklicherweise entdeckte er eine Lücke zwischen zwei Bierbäuchen. Er konnte zwar kaum über den Tresen hinwegsehen, doch er war entschlossen, gehört zu werden: »Bitte helfen Sie mir! Meine Schwester wurde entführt! Ich habe die Verantwortung für sie und –« Weiter kam er nicht, denn eine fleischige Hand packte seinen Kopf und schob ihn aus dem Weg.

      »Jetzt drängel dich hier nicht vor, Lümmel«, schimpfte eine andere Frau und nahm die Hand wieder von Moritz’ Kopf. »Ich bin eine respektable Dame und werde nicht zulassen, dass du dich hier so frech …«

      Moritz beachtete die Frau gar nicht. Er nutzte die nächste Lücke und quetschte sich nach vorne: »Bitte helfen Sie mir! Meine Schwester wurde entführt! Ich –«

      Ein Ellenbogen landete mitten in seinem Gesicht. Seine Nase vibrierte vor Schmerz. Moritz schrie auf und schlug gegen den Tresen. Der Knall ließ für Sekunden das Durcheinander verstummen.

      »Verdammt, jetzt hören Sie doch zu! Meine Schwester wurde entführt!«

      Alle Augen ruhten nun auf Moritz.

      Der bärtige Wachtmeister beugte sich tief über den Tresen: »Was schreist du so, Bursche?«

      Moritz betastete seine Nase. Wenigstens blutete sie nicht. »Meine Schwester, Konstanze Brenner«, sagte er hastig, »sie ist sechs Jahre. Sie wurde entführt von einem Ding! Einem … einem Etwas! Einem … einem … Monstrum!«

      Einen Herzschlag lang geschah nichts. Dann ertönte schallen­des Gelächter. Ausnahmslos alle Anwesenden schütteten sich aus vor Lachen.

      Moritz sank in sich zusammen. Er starrte auf das feuchte rosa Haar­band in seiner Hand. Dann hörte er wieder die Stimme des Wacht­meisters: »Geh nach Hause zu deinen Eltern, Junge. Wir haben hier Wichtigeres zu tun, als uns deine Märchen anzuhören.«

      »Sie sind tot. Meine Eltern sind tot!« Die Worte schossen förmlich aus Moritz’ Mund.

      Wieder Stille. Diesmal länger.

      Moritz blickte auf seine Schuhe. Die ersten Geräusche, die er hör­­te, kamen von Stiefeln. Jemand ging um den Tresen herum. Moritz spürte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er sah auf.

      Es war der junge Schutzmann, der gerade noch an den Fens­tern gearbeitet hatte. Sein Gesicht war freundlich, seine Stimme ruhig. »Komm mit mir, Junge«, sagte er. Vor ihnen bildete sich eine kleine Gasse.

      Es klopfte zweimal, dann öffnete sich die Tür.

      Den ganzen Weg zurück zum Waisenhaus hatte Moritz ge­schwiegen. Immer wieder hatte der Schutzmann versucht, ein Ge­­­­­­spräch anzufangen, hatte ihn nach seinem Namen gefragt. Moritz war stumm geblieben. Es war sinnlos. Er hatte um Hilfe ge­­­bettelt, wollte allen erzählen, was passiert war – doch sie hatten nur gelacht.

      Jetzt erwartete ihn der Flur des Waisenhauses und der finstere Blick von Fräulein Bimmel.

      Wenig später saß er auf einem Stuhl in ihrem Büro. Wie hypno­­­tisiert sah er auf das Haarband in seinen Händen. Sein Zeige­f­­­inger fuhr sanft über den weichen Stoff. Die Unterhaltung zwischen dem jungen Beamten und Fräulein Bimmel lähmte seine Sinne.

      Wie immer saß das Fräulein mit


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