Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12. Heiko Hentschel

Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12 - Heiko  Hentschel


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Maske aus schwarzem Glas.

      Reglos verharrte sie, den Kopf im Nacken, und saugte das Weiß in sich auf.

      Der Mann verneigte sich. »Wir haben soeben den Hafen verlassen, Durchlaucht.«

      Etwas in der Beschaffenheit der Luft veränderte sich. Eine uralte Kraft ließ Staubkörner erzittern und sorgte dafür, dass der Atem gefror. Schall dehnte sich aus, zuerst verhalten, wie ein Wispern, dann kraftvoll, als ob mehrere verirrte Echos auf­einanderprallen würden. Ein ungeheuerlicher Klang erwachte, bis Hunderte von Stimmen gleichzeitig zu sprechen begannen. Die Stimmen unzähliger Mädchen.

      »Segelt nach Norden, wo uns niemand kennt, Hauptmann.«

      »Wie Ihr wünscht, Durchlaucht.« Der Hauptmann verharrte weiterhin in seiner Pose. Seine Aufgabe war noch nicht beendet.

      »Es ist Zeit. Bringt sie jetzt zu mir.«

      Eine noch tiefere Verneigung folgte, dann trat der Haupt­mann einen Schritt zurück. Er holte ein Amulett aus Eisen unter seinem Mantel hervor. Ein Karfunkel schimmerte dunkelrot in der Düsternis. Mit halb geschlossenen Lidern begann er die Be­­­schwörung. Seine Hand war ruhig, wie jedes Mal. Der Stein begann zu leuchten, zu pulsieren. Ein schlagendes Herz.

      Erwache!

      Ein tiefes Grollen donnerte durch die Messe, gefolgt von einem Echo, das von den fernen Wänden widerhallte. Zwei rote Punkte – gleich einem Augenpaar – füllten sich mit Leben.

      Etwas rührte sich in der hintersten Ecke, die von den Schat­ten fast vollständig verschlungen wurde. Ein Ungetüm in der Fins­­ternis. Krallen schabten über das Parkett. Ein mächtiger Rü­cken hob und senkte sich. Weite, missgestaltete Schwingen ent­­­fal­teten sich knirschend, bevor das Etwas sich umdrehte und seine Beute preisgab.

      Ein kleines Mädchen wurde ins Licht gestoßen. Flammend rote Locken, ein weißes Nachtgewand, am Saum mit Rosen be­­stickt. Sophie starrte, leicht schwankend wie in Trance, stur ge­­rade­aus.

      »Komm zu mir.«

      Die Stimmen aus der Ferne summten wie ein Bienenschwarm.

      Das Mädchen setzte sich in Bewegung. Wie von einem un­sichtbaren Band gezogen, ging Sophie Albrecht hinüber zum Podest und schritt die Stufen hinauf.

      Sie verharrte erst, als sie direkt vor der Komtesse stand. Doch sie konnte die in Schatten und Spitze gehüllte Gestalt nicht wahrnehmen. Sie sah nur eine kreisrunde Maske aus schwarzem Glas. Die Schwärze war un­­ergründlich, aber nicht leblos. Schemen schlängelten sich darin. Hunderte, nein, Tausende kleiner Gesichter wirbelten umher und kräuselten sich wie feinster Rauch.

      »Willst du meine Freundin sein?«

      Mit beiden Händen wurde die Maske entfernt.

      »Lass uns spielen.«

      Der Hauptmann senkte den Blick, als das Glas sich langsam auf das Mädchen zubewegte. Das Grollen des Ungetüms in der Ecke schwoll an und verwandelte sich in wilden Donner. Er hallte über das Schiff hinaus, über das Meer, bis in die nächste Stadt.

      Jede Stadt hat ihr eigenes Gesicht. Die meisten sind schmutzig – sehr schmutzig. Hässlich und wirr, als wären die Häuser ohne Vorwarnung aufgetaucht. Nachts erinnern sie an umgekippte Müllhalden, deren glühende Fensteraugen in Düsternis starren. Andere verzichten auf Spuk oder Romantik, um einfach so vor sich hin zu stinken.

      Diese hier war ein Holzschnitt in Schwarz und Weiß. Die sehr engen und gedrängten Linien darauf waren allesamt krumm und schief. Und da es sich um eine sehr alte Stadt handelte, gruben sie sich sehr tief ins Holz. Darüber konnte noch nicht einmal die Sonne hinwegtäuschen, die gerade über dem Meer aufstieg und alles in warmes Licht tauchte.

      Ravenbrück, der oberste Zipfel Preußens.

      Kleine, schiefe Fachwerkhäuser pressten sich dicht an dicht – so verhutzelt und verwinkelt, dass nicht einmal ein Pferde­­­karren durch die Gassen passte. Eine jener übel riechenden Fischerei­städte, durch deren Straßen man nicht ging, nein, man schob und zwängte sich hindurch, häufig auf Fischabfällen ausrutschend.

      Hierhin passte auch der bucklige Schatten, der über allem thron­te. Drohend und abweisend. Das Waisenhaus. Der Ort der Ver­­­gessenen. Unzählige Schornsteine reckten sich in den Him­mel, wie ausgemergelte Finger. Sie griffen nach den Wolken, doch er­reichten sie nicht. Noch nicht. Aber das war nur eine Frage der Zeit.

      Moritz Brenner verabscheute diesen Ort. Kaum ein Zimmer, das nicht halb auseinanderfiel oder sich aufgrund schiefer Trep­pen und morscher Dielen in kürzester Zeit in eine Todesfalle verwandelte. Und seine kleine Schwester mittendrin.

      »Konstanze, wo bist du?« Er spähte hinunter in den kargen Vorhof. »Wo versteckst du dich?«

      Keine Antwort.

      Moritz fluchte. Konstanze wollte ihn ärgern, klar. Das tat sie nur, weil sie wusste, dass er die Verantwortung trug. Es war leichter, eine Katze zu baden, als auf sie aufzupassen. Warum konnte sie nur nicht so vernünftig sein wie er?

      Stöhnend reckte er sich noch weiter aus dem Fenster, um ganz in die Tiefe blicken zu können; unter seinem Gewicht knackte der Holzrahmen. Weit und breit nichts zu sehen von Konstanze.

      Moritz lehnte sich zurück und blickte an sich herab. Er war über und über mit Staub und Holzsplittern bedeckt. Großartig. Er klopfte seine Jacke sauber. Sie war viel zu schade für diese Umgebung. Seine Eltern hatten sie ihm vor über einem Jahr geschenkt, zu seinem zwölften Geburtstag. Danach war nichts mehr so gewesen wie zuvor.

      »Konstanze, wo steckst du nur?«

      Wie aufs Stichwort schepperte eine lose Schindel die Dach­schräge hinunter. Sie prallte von der Regenrinne ab und sauste dann dem Erdboden entgegen. Moritz sah, wie sie auf dem Pflaster zerbarst. Panisch blickte er zum Dachfirst hinauf. Ihm stockte der Atem.

      Da war Konstanze. Sie balancierte auf der obersten Dach­kante … Nein, sie balancierte nicht, sie ruderte wild mit den Armen! Der Novemberwind peitschte ihr das Kleid um die Beine und zerrte an ihren dunklen Locken. Ihr bloßer Fuß suchte auf den Schindeln Halt. Sie drohte zu fallen.

      »Konstanze, nicht!«, rief Moritz. »Komm auf der Stelle da runter!«

      Langsam gewann Konstanze ihr Gleichgewicht zurück – aber nur für wenige Sekunden – im nächsten Moment fegte eine Wind­­böe über die Dächer und erwischte sie mit voller Wucht. Das Mädchen taumelte und umklammerte das Rohr eines nahen Schorn­steins. Es knackte. Der obere Teil des von Ruß und Rost zer­fressenen Metalls brach ab und polterte die Dachschräge hinunter. Mit einem Aufschrei fand Konstanze Halt am First.

      »Rühr dich nicht vom Fleck! Ich komme zu dir!«

      Hastig kletterte Moritz auf den Sims. Von dort aus sprang er auf das erste Schrägdach, dann krabbelte er hoch zum First und balancierte hinüber zum Schornstein. Er musste sich selbst an den Überresten des Rohrs festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, als er seine kleine Schwester zu sich zog.

      »Konstanze, was ist in dich gefahren? Bist du verrückt?« Ängstlich besah er sich Konstanzes Knie. »Hast du dir wehgetan? Bist du irgendwo verletzt?«

      »Nein, Moritz. Es geht mir gut.«

      »Bist du sicher?« Er untersuchte ihre schmutzigen Füße. »Manchmal merkt man das nicht sofort und hat trotzdem was gebrochen.«

      »Ja-ha.« Es klang genervt.

      Moritz verdrehte die Augen. Konstanze verstand einfach nicht, wie wichtig es war, dass ihr nichts passierte. Für sie war er nur ein Angsthase und Spielverderber.

      »Ich wollte wissen, was das für ein seltsames Geräusch ist«, sagte sie.

      »Was für ein Geräusch?«

      SCHA-RACK. Ein blechernes Krächzen meldete sich aus dem abgeknickten Rohr. Moritz zuckte zusammen.


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