Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12. Heiko Hentschel

Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12 - Heiko  Hentschel


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war, ihr graues Nachtgewand am Rücken zuzuknöpfen.

      Die Elster hopste von ihrem Schoß herunter und inspizierte den Verband, der ihren Körper stützte. Seltsamerweise versuchte sie nicht ihn loszuwerden, sondern keckerte nur leise, als sie die winzige Schleife an ihrer Brust entdeckte. Moritz kannte Elstern. Sie waren weder zu übersehen noch zu überhören, wenn sie sich in den Gassen mit den Möwen um die Abfälle stritten. Aber diese hier war anders. Sie reagierte ruhig und friedlich, fast wie ein Mensch.

      »Du brauchst unbedingt einen Namen«, sagte Konstanze.

      Moritz, der gerade den letzten Knopf an ihrem Gewand ge­schlossen hatte, schnappte sich zum vermutlich hundertsten Mal am heutigen Tag das rosa Haarband seiner Schwester. »Jetzt halt bitte still, sonst kann ich deine Schleife nicht richtig zubinden.«

      »Wie wär’s mit Theo?«, fragte Konstanze und legte den Kopf schief. Die Elster ahmte sie nach.

      »Scha-rack!« Es klang unzufrieden.

      »Stillhalten habe ich gesagt.«

      »Also, es ist auf jeden Fall ein Männchen. Das sieht man an der Form seines Schnabels!«

      Moritz seufzte. »Wenn du meinst.« Er war immer noch vertieft in seine Arbeit mit dem Zopf. Irgendwann musste er es doch schaffen, die Haare so zu binden, dass alles an seinem Platz blieb. »Fertig!«

      Konstanze entspannte sich und sprang auf. Sie hüpfte wild über die Betten und steuerte dann schnurstracks auf das Medail­lon zu.

      »Heute bin ich dran«, verkündete sie und griff danach.

      »Nein, gib es wieder her!«, rief Moritz. »Du hast es gestern Abend schon gehabt.«

      »Hab ich nicht!«

      Ein Moment der Unachtsamkeit und Moritz hatte ihr das Medaillon wieder abgenommen. Er hielt es hoch über ihren Kopf. »Mama und Papa haben mir die Verantwortung übertragen. Ich bin der Erwachsene, also sage ich, wer es bekommt.«

      »Mama und Papa haben gesagt, wir sollen es uns teilen!« Sie hüpfte hoch, um es zu erreichen.

      Moritz verfluchte sich. Da war sie wieder, die Lüge. Er hatte seiner Schwester nie erzählt, wie er wirklich an das Medaillon gekommen war. Die Wahrheit war zu schrecklich. Warum hatte er ihr überhaupt davon erzählt?

      Abermals sprang Konstanze nach oben. Sie bekam den An­­hänger zu fassen und riss daran.

      »Lass das! Du machst es kaputt«, rief Moritz.

      Konstanze schrie hell auf. Sie zog noch fester an der Kette. Die Elster krächzte erschrocken und brachte sich unter dem Bett in Sicherheit.

      Moritz dämpfte seine Stimme. »Hör auf zu schreien! Wir kriegen noch Ärger!« Aber Konstanze schrie weiter, den Anhänger so fest im Griff, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden.

      »Sei leise! Bitte!«

      Doch es war zu spät. Die Tür flog auf und eine bekannte Stimme donnerte ins Zimmer. »Was ist denn hier los?«

      Moritz wurde kalkweiß. Fräulein Bimmel stand mitten in der Tür, mit einem Gesicht, das Milch hätte sauer werden lassen können.

      »Er hat das Bild von Mama und Papa«, rief Konstanze, »und ich bin heute dran, es zum Einschlafen zu haben.«

      Das Fräulein hob eine Augenbraue. »Stimmt das, junger Brenner?«

      Moritz schluckte. Fräulein Bimmel hatte ihn mit seinem Nach­­­­­namen angesprochen – kein gutes Zeichen. »Sie hatte es schon gestern. Sie erinnert sich nur wieder nicht.«

      »Gar nicht wahr!«, blökte Konstanze.

      »Wohl wahr!«, schnaubte Moritz. Warum musste sie immer alles noch schlimmer machen?

      Fräulein Bimmel reckte sich und der Raum schien zu schrumpfen. Ihre Mundwinkel erklommen einen Teil ihres Gesichts, der nur sehr selten Besuch bekam. Sie lächelte, die Parodie eines Lächelns. »Nun, da gibt es wohl nur eine Lösung.«

      Ihre Hand senkte sich vor Moritz herab, der ängstlich die Augen zusammenkniff. Und als sie wieder verschwand, hatte das Medaillon den Besitzer gewechselt.

      »Nein, bitte nicht!«

      »Ich behalte es heute Nacht«, sagte das Fräulein und lächelte. Bereits das zweite Mal an diesem Abend – ein unheimlicher Rekord. »Wenn ihr euch wieder vertragen habt, könnt ihr morgen zu mir kommen.«

      »Aber …« Unwillkürlich macht Moritz eine Bewegung auf sie zu.

      »Ihr Brenners solltet auch schon längst schlafen.« Ihr Lächeln gefror. »Ich komme gleich und kontrolliere das. Wenn ich dann noch Licht sehe, dann …« Sie schwenkte das Medaillon wie ein Pendel und ließ es in ihre Tasche gleiten. Mit einem RUMS! schloss sie die Tür hinter sich.

      Moritz war wie erstarrt. Sein Mund staubtrocken. Er hörte die Stimme seiner Schwester. »Tut mir leid, Moritz.«

      Aber Moritz rührte sich nicht. Er starrte auf die Tür. Dann irgendwann, sank sein Kopf nach unten: »Warum verschwindest du nicht einfach …«

      Ohne Konstanze noch einmal anzusehen, ging er zu seinem Bett, löschte die Kerze und zog sich die Decke über den Kopf.

      »Es tut mir leid!«

      Moritz hörte seine Schwester in der Dunkelheit schniefen. Aber es war ihm egal. Kurz darauf krabbelte sie in ihr Bett, wo sie leise weiter wimmerte. Er schloss die Augen und glitt hinüber in einen unruhigen Traum, während draußen vor dem Fenster der Sturm begann.

      Ein Blitz zerriss die Nacht. Das Unwetter fegte ins Zimmer. Glas zer­splitterte. Wind und Regen peitschten zum Fenster herein. Moritz wälzte sich in seinem Bett hin und her. Etwas Riesiges kroch durch die Öffnung. Jemand schrie. Eine helle, kleine Stimme. Konstanze!

      Mit einem Satz sprang Moritz aus dem Bett, plötzlich hellwach. Es war kein Traum! Wieder hörte er den Schrei.

      Moritz stand mitten im Zimmer und starrte zum Erkerfenster. Die Läden waren aus den Angeln gerissen – überall lag Glas. Als der nächste Blitz den Fensterrahmen ausfüllte, sah Moritz das, was ihn eben noch in seinen Träumen verfolgt hatte. Den Umriss eines gewaltigen Ungetüms. Klauen, ein langer Schwanz, gewaltige Schwingen, ein gebogenes Maul und rot glühende Augen!

      Ein … ein Greif!

      Nein, das konnte unmöglich sein! Moritz’ Gedanken rasten. So etwas gab es nur im Märchen! Das Untier bewegte sich. Seine Gestalt, sein ganzes Äußeres, verschwamm vor Moritz’ Augen wie durch einen Zerrspiegel entstellt und setzte sich dann neu zu­­­sam­­men – in all seiner Schrecklichkeit. Das Geschöpf, groß wie ein Löwe, klammerte sich mit einer Pranke am Fensterrah­men fest. In seiner anderen hielt er – Moritz stockte der Atem …

      »Konstanze!«

      Mit einem grässlich knackenden Geräusch öffnete das Untier sein Maul. Tief in seinem Rachen loderte ein Feuer. Funken sprühten, als ob sie aus der Hölle selbst heraufgeflogen kämen. Sein Schrei vermischte sich mit dem Grollen des Donners und dem Heulen des Sturms. Dann krümmte sich die Kreatur und sprang hinauf zum First. Sie wollte verschwinden – mit Konstanze.

      »Moritz!«, schrie seine Schwester.

      Er stürzte hinterher, zum Fenster hinaus, hoch aufs Dach. Regen klatschte ihm ins Gesicht. Schnell kletterte er höher, bis er den ersten First erreicht hatte. Oben sah er sich um.

      Das Ungetüm raste durch den Irrgarten aus kleineren und größeren Dächern. Es rammte Schornsteine und riss sie mit sich wie eine Geröll­­­lawine. Moritz nahm die Verfolgung auf. Er rannte eine Dachschräge hinauf und schlitterte sie auf der anderen Seite wieder hinunter. Konstanzes Stimme hallte durch den Sturm.

      »Moooriiitz!!!«

      Er schnellte wie ein Pfeil von der Sehne – bog um Schorn­steine, schlug Haken, das Ungetüm mit


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