Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12. Heiko Hentschel

Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12 - Heiko  Hentschel


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später befand er sich wieder über den Dächern und lag auf der Lauer. Sein selbstgebauter Bogen lag griffbereit neben ihm. Die Elster schlief bereits an seiner Brust, den Körper verborgen unter seiner zugeknöpften Jacke. Moritz hingegen konnte nicht schlafen. Er beobachtete die Stadt. Keine Bewegung durfte seinem Blick entgehen, kein Mensch, kein Tier – und ganz bestimmt nicht das Ungetüm. Doch es zeigte sich nicht.

      *****

      Morgens war es genauso kühl wie in der Nacht zuvor. Moritz fröstelte, als er den Marktplatz von Ravenbrück überquerte; der Elster unter seiner Jacke ging es nicht viel besser. Normalerweise hätte Moritz sie auch im Verschlag zurückgelassen, denn da war es wenigstens nicht so zugig wie auf offener Straße, aber heute brauchte er sie. Sie war das Herzstück dessen, was er vorhatte.

      Rasch ließ er den Marktplatz hinter sich und bog in eine enge Seitenstraße ein, in der es nach Pferdeäpfeln roch. Hier war er richtig. Er sah das Schild mit dem Sattler-Wappen über einer Tür am Ende der Straße, ebenso wie die Türglocke darunter.

      Moritz holte die Elster hervor und blickte ihr tief in die Augen. »Du weißt, was du zu tun hast.«

      Die Elster keckerte als Antwort.

      Moritz schlich über den Hinterhof der Sattlerei. Er folgte dem Duft des warmen Leders, der durch das leicht geöffnete Erd­geschossfenster strömte. Ein schwerer, intensiver Geruch, der die Sinne benebelte. Moritz bezog unter dem Fenster Stellung und lugte vorsichtig ins Werkstattinnere.

      Der Sattlermeister saß an seiner Werkbank direkt vor ihm und schnitt ein paar Stücke Leder zurecht. Moritz konnte das Gesicht des Mannes kaum ausmachen. Es war so braun und gegerbt wie die Riemen, Gürtel und Schnüre, die überall um ihn herum von der Decke baumelten.

      Im Hintergrund läutete es.

      Moritz beobachtete, wie der Meister die Lederstücke auf den Stapel legte und in einem dichten Wald aus Tierhäuten verschwand. Wenn der Mann zurückkam, würde er einige Leder­strei­fen weniger besitzen.

      Wenig später verließ Moritz den Hinterhof mit einem halben Dutzend Lederstreifen unterm Arm. Er sah hoch zur Türglocke unter dem Wappen und lächelte. Die Elster saß noch immer da, wo er sie zuvor platziert hatte, und beäugte ihr Spiegelbild in der Glocke. Immer wieder neigte sie ihr Köpfchen und beobachtete, wie es ihr die andere Elster im Spiegel gleichtat. Sie pickte erneut nach der Glocke und es läutete.

      Moritz pfiff und die Elster hüpfte auf seine Schulter hinunter. Dann gab er Fersengeld. Er war bereits außer Sichtweite, als der Sattler abermals die Tür öffnete und hinausspähte.

      Moritz’ Trick hatte funktioniert. Es gab kaum etwas, was die Aufmerksamkeit eines Handwerkers so sehr zu fesseln vermochte, wie eine Glocke. Das hatte Moritz durch seinen Besuch bei dem Schneider gelernt. Glockengeläut bedeutete Kundschaft – und Kundschaft bedeutete ein paar Gute Groschen.

      Immer wenn Moritz neue Gegenstände eingesammelt hatte, kehrte er in seinen Verschlag zurück und begann, dort an mehreren Dingen gleichzeitig zu arbeiten.

      Unter den neugierigen Blicken der Elster hantierte er abwechselnd mit Lederriemen und Metallstiften auf der einen und Seilen und Steinen auf der anderen Seite.

      Als die Dämmerung hereinbrach, hatte er sein nächstes Werk vollendet – eine Bola. Es war eine Wurfwaffe, wie er sie aus einer der Waffen- und Werkzeugfibeln seines Vater kannte. Der Auf­­bau der Waffe war vergleichsweise simpel: drei gleich lange Seile, die an einem Ende miteinander verknotet waren, wie ein dreifingriger Stern. An den anderen Enden der Seile war jeweils eine kleine Ledertasche angebracht, die einen kreisrunden Stein als Gewicht enthielt.

      Moritz hatte fast einen ganzen Tag nur darauf verwendet, drei exakt gleiche Steine zu finden. Fast alle Pflastersteine, die man in den Gassen finden konnte, waren zwar gleich groß, aber viel zu schwer, um daraus ein Wurfgeschoss zu bauen, das man ständig mit sich herumtragen konnte. Nein, Moritz brauchte kleinere Steine – es sollte eine handliche Waffe werden.

      Nun konnte er es kaum erwarten, sie auszuprobieren. Er hielt die Bola an einem der Gewichte fest und wirbelte sie durch die Luft. Die Steine in den Ledertaschen surrten über seinem Kopf und Moritz zielte auf einen Holzpfahl.

      Er ließ los. Die Bola machte einen kümmerlichen Satz und landete im Dreck.

      Auch die nächsten Versuche klappten nicht besser. Mal ver­wendete er zu viel Schwung, was dafür sorgte, dass die Bola nach hinten losging und ihn fast bewusstlos schlug, mal ließ er nicht rechtzeitig los und die Seile wickelten sich in rasender Geschwindigkeit um seine Hand – wobei ihm die zusammenschlagenden Steingewichte beinahe die Finger zerquetschten.

      Es dauerte über eine Stunde, bis Moritz ein paar halbwegs passable Würfe erzielte. Es war ein Anfang, doch er wusste, dass es noch um einiges schwieriger sein würde, ein bewegliches Ziel im Laufen zu treffen.

      Er übte weiter, bis er das Gefühl hatte, dass die Waffe mehr und mehr ein Teil von ihm wurde. Dann war es Zeit, sich wieder auf die Lauer zu legen.

      Diese Nacht war noch kälter als die vorherige und Moritz’ Glieder schmerzten vor Müdigkeit, als er sich auf dem Dach des Apothekers niederließ. Abgesehen vom Kirchturm war dies wohl der beste Platz, um die Gegend im Auge zu behalten. Er gähnte, aber er wollte nicht schlafen. Er durfte nicht. Was, wenn er das Monster verpassen würde? Was, wenn es gerade zuschlug, während er die Augen schloss?

      Ein schrecklicher Gedanke kroch in ihm hoch: Was, wenn sich das Monster nie wieder zeigen würde? Er würde Konstanze niemals wiederfinden.

      Er schüttelte den Gedanken ab. Nein, er würde warten. Er musste warten. Es war seine einzige Chance.

      Der nächste Morgen roch nach Schaf.

      Moritz ließ sich vom Dach herunter und schlich hinter den Marktplatz, wo eine magere Schafherde dicht gedrängt auf der umzäunten Fläche eines Viehhofes stand. Lautlos legte er sich hinter dem Gatter auf die Lauer.

      Obwohl die Sonne heute so kraftvoll schien wie schon lange nicht mehr, fühlte sich Moritz miserabel. Die Nacht zuvor war ein endloser Kampf mit der Müdigkeit gewesen und er hatte einen furchtbaren Muskelkater von den ungewohnten Wurfübungen mit der Bola. Seine Ohren dröhnten und seine Augen brannten wie Feuer. Aber er versuchte sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die vor ihm lag. Und diese war weich, roch muffig und war erheblich wärmer eingepackt als er.

      Moritz zückte sein Messer und kletterte zu den Schafen ins Gatter. Lautlos pirschte er sich an das Hinterteil des größten Tieres heran und zupfte vorsichtig an der Wolle. Er nahm das Messer und begann ein paar Locken abzuschneiden. Direkt hinter ihm reckte ein schwarzer Widder seinen Kopf. Er hatte Moritz ins Visier genommen und seine Nüstern blähten sich.

      Die Elster krächzte.

      Erschrocken wandte sich Moritz um und im nächsten Moment jagte der Widder mit gesenkten Hörnern hinter ihm her.

      Als Moritz später mit einem blauen Auge zum Verschlag zurückkam, hatte er ausreichend Wolle ergattert, um sein letztes Werkzeug endlich fertigzustellen. Er holte das Wirrwarr aus Leder, Stofffetzen und Metall hervor und begann, die Schafwolle einzuarbeiten. Als er fertig war, stemmte er die Hände in die Hüften und warf der Elster einen abschätzenden Blick zu. Neugierig beobachtete sie, wie er das Kunstwerk in die Luft hob.

      Es war ein Tragesitz für die Elster: mit Riemen aus Leder und einem Köcher aus Stoff, der innen mit Wolle ausgepolstert war. Moritz lächelte. Die Elster zurückzulassen, kam nicht infrage. Wenn er in ihre Knopfaugen schaute, war alles wieder da – der Abend, der Streit, der Sturm, das Monstrum. Die Elster war das Band, das die Geschwister zusammenhielt.

      Für Konstanze.

      *****

      Der Mond glänzte hell. Moritz lief behände über die Dächer und Firste. Die Elster saß bequem in dem Tragesitz, der um seine Brust geschnallt war. Bola und Bogen hatte er geschultert. Die Pfeile hatte er in einem provisorischen Köcher aus übrig gebliebenen Lederstreifen untergebracht, sodass er beide Hände zum Klettern frei hatte. Er hielt an einer Dachkuppe kurz inne und blickte über die Stadt. Zum ersten


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