Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12. Heiko Hentschel

Das hungrige Glas (Die Glas-Trilogie, Band 1) - spannendes, bildgewaltiges Fantasy-Jugendbuch ab 12 - Heiko  Hentschel


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ihren Fächern und waren sämtlich leer bis auf zwei in der untersten Reihe.

      Edgars Hand zitterte – ein untrügliches Zeichen dafür, dass die letzte Dosis viel zu lange zurücklag. Die Flüssigkeit im Innern der Flaschen leuchtete wie seine Augen. Er öffnete die vorletzte Phiole und atmete tief durch. Dann trank er den Inhalt in einem Zug aus.

      Endlich ließ das Zittern nach. Edgar spähte durch den Vorhang und beobachtete Moritz, der gerade die Elster auf dem Kissen neben sich behutsam streichelte. Das Tier hatte sich zu­sammengekauert und das Köpfchen unter seinen unver­­­letzten Flügel geschoben.

      Der Junge griff nach dem Medaillon an seinem Hals und presste es fest an die Brust.

      »Du solltest jetzt schlafen.«

      Überrascht sah Moritz auf.

      Edgar ging zu ihm und reichte ihm eine Wolldecke. »Wenn ich dir helfen soll, deine Schwester wiederzufinden, haben wir morgen einen ziemlich anstrengenden Tag vor uns.«

      Moritz’ Gesicht hellte sich auf, seine Augen strahlten. »Danke.«

      »Lösch die Kerzen, bevor du einschläfst«, sagte Edgar und schlüpfte zurück hinter den Vorhang.

      Eine kleine Ewigkeit stand Edgar reglos im Halbdunkel und betrachtete die leuchtenden Augen der Boogelbies. Das Zittern war nun vollends verschwunden. Wie lange noch?

      Er lächelte bitter. Helene hatte recht: Edgar wusste, was es hieß, die Hoffnung nicht aufgeben zu wollen. Ein Grund mehr, keine Zeit zu verlieren.

      Er würde dem Jungen helfen – würde ihn unterweisen und einen Stundenplan entwerfen, der selbst den talentiertesten Schüler auf eine harte Probe stellte. Wofür er, Edgar, Jahre des Forschens und der Übung gebraucht hatte, würde der Junge in wenigen Tagen lernen müssen.

      Der Hunger war gestillt.

      Nach dem Ritual war Nathaniel unverzüglich in sein Refu­gi­um an Bord des Schiffes zurückgekehrt, seine Kammer aus Glas­kolben und Getier. Wie lange würde es dauern, bis seine Herrin nach einem neuen Mädchen verlangte? Einen Tag? Zwei Tage? Und wie lange würde es dauern, bis ihre Verfolger sie aufspüren würden? Seine Bewegungen wurden fahriger. Sein Geist floh panisch in alle Richtungen und drohte ihn zu zerreißen.

      Er sollte für Sicherheit sorgen, doch wie sollte er das anstellen? In der Tiefe seines Herzens ahnte er, dass die Worte der Komtesse nur eine Provokation gewesen waren. Sie wusste, wie schwach und hilflos er war … wie sehr er auf die Hilfe seiner Kreatur angewiesen war. Er war das schwächste Glied in einer langen Kette von Männern, die ihr Leben einzig und allein dem Geleit und dem Fortbestehen der Komtesse gewidmet hatten. Nathaniel kannte die Geschichte auswendig. Sie wurde weitergegeben vom Vater zum Sohn, auf dass niemals in Vergessenheit geraten würde, welche Schuld einer seiner Vorfahren vor fast 300 Jahren auf sich und alle Nachkommen geladen hatte.

      Damals stand Nathaniels Familie in den Diensten einer der einflussreichsten Adelshäuser ganz Europas, der Familie Flavée. Ein Haus, dem man nachsagte, es könne Könige stürzen und Päpste stellen. Diesem Geschlecht zu dienen, kam einem Ritter­schlag gleich.

      Doch Macht und Einfluss schaffen Feinde – und Feinden tritt man nicht ohne Schutz gegenüber. Eben diesen Schutz garantierte der Clan, dem auch Nathaniel entstammte. Sämtliche Mitglieder dieser Familie, ob Mann oder Frau, waren geübt im Kampf und in der Kriegskunst.

      Oberster Hauptmann der Leibwache war ein Mann namens Ruprecht gewesen. Ein Hüne, mit einem Gesicht, das mehr Nadel­­­­stiche gesehen hatte als eine Flickendecke. Ihm folgten die Seinen treu ergeben und schützten das Haus Flavée vor den feindlichen Schatten, die immer wieder am Horizont auftauchten. Doch es gab Bedrohungen, denen man nicht mit Schwertern oder einer List beikommen konnte. Kräfte, die sich weder vertreiben noch bestechen ließen.

      Man schrieb das Jahr 1513, als zum sechsten Geburtstag der einzigen Tochter des Hauses alle nahen Angehörigen und Verwandten auf dem Kastell der Flavées versammelt waren. Es sollte ein rauschendes Frühlingsfest werden, das drei Tage und drei Nächte dauern und ein unheimliches Leiden vergessen machen sollte, das wie eine düstere Wolke über der Familie schwebte.

      Das Geburtstagskind, Komtesse Emilia Flavée, war der ganze Stolz der Familie. Sie war das einzige Kind, das nach über zwei Jahrzehnten der Unfruchtbarkeit empfangen worden war. Von Geburt an wurde sie wie ein Schatz behütet. Sie war das Schmuckstück der Familie, das Juwel, das man gerne zu öffentlichen Anlässen anlegt, um sich bestaunen und bewundern zu lassen – nur um es anschließend in seine Schatulle zurückzusperren, bis es wieder gebraucht wird. So geschah es auch der kleinen Emilia.

      Nach offiziellen Auftritten wurde sie stets in ihre Kemenate zurückgeschickt. Ihre Tage waren gefüllt mit Unterrichtsstunden, in denen sie Poesie und Melodien beigebracht bekam, um sie wenig später in geselliger Runde vorzutragen. Stets lächelnd, perfekt frisiert und in prächtige Gewänder gehüllt, die ihr auf den Leib geschneidert waren. Anschließend verschwand sie wieder, als ob sie einem flüchtigen Traum entsprungen wäre.

      Die wenigsten Hausdiener hatten die kleine Emilia jemals zu sehen bekommen. Aus Angst vor ansteckenden Krankheiten war nur einigen ausgewählten Kammerdienern und Zofen der Zutritt zu ihren Räumlichkeiten gestattet. Ruprecht gehörte zu denjenigen, die dieses Privileg genossen. Die niedere Diener­schaft kannte nur ihr Abbild, das die Wände des Kastells zierte. Wunderschöne Portraits, die versuchten, die engelsgleichen Züge des Mädchens auf Leinwand zu bannen, ihre Anmut einzufangen und sie zu verewigen.

      Manchmal ertappten sich der Graf und die Gräfin Flavée dabei, wie sie sich wünschten, das zarte, feine Gesicht für immer konservieren zu können, um ihr zauberhaftes Lächeln, ihr putziges Näschen, ihre strahlenden Äuglein für immer zu erhalten. Denn mit jedem Lebensjahr – in dem sie ein Stück erwachsener wurde – verlor sie einen Teil ihrer Unschuld.

      Der Glanz des Diamanten begann zu verblassen, im Alter von nicht einmal sechs Jahren.

      Und eine seltsame Veränderung vollzog sich: Emilia lächelte nicht mehr – was man mühelos an den jüngsten Gemälden ablesen konnte. Mit fortschreitender Zeit fiel es immer schwerer, ihr einen freudigen Ausdruck zu entlocken.

      Dem folgte alsbald die Stimme. Hinter vorgehaltener Hand wurde gemunkelt, das Mädchen sei von einem seltenen Leiden befallen worden. Einige behaupteten gar, sie hätte ihre Stimme ganz verloren. Die Spekulationen überschlugen sich und wurden durch häufige Hausbesuche diverser Mediziner angefacht.

      Sämtliche Freude schien aus der Seele des Mädchens gewichen zu sein. Schwermut bemächtigte sich ihrer und verdunkelte ihr Gemüt, bis von dem ehemals so fröhlichen Antlitz nur noch ein Schatten übrig war.

      In dem Monat vor Emilias sechstem Geburtstag verschwanden urplötzlich die Heilkundler aus dem Haus. Kurzzeitig glaubte man, das Mädchen hätte sein Leiden überwunden, denn der Graf höchstselbst hatte einen jungen, aufstrebenden Künstler in sein Heim bestellt, um anlässlich des bevorstehenden Wiegenfestes ein neues Portrait seiner Tochter anfertigen zu lassen.

      Als der Maler der Familie seine Aufwartung machte, führte man ihn in die Kemenate der kleinen Emilia. Kurz darauf beobachteten die Diener, wie dieser mit gequältem Ausdruck zur Tür hinauslief.

      Was auch immer der junge Mann gesehen hatte, es hatte ihm einen Schock versetzt.

      Als der große Tag gekommen war, trafen von nah und fern die kostbarsten Geschenke auf dem Familiensitz ein. Selbst die umliegenden Städte und Grafschaften überbrachten aufwendige Gaben, einerseits, um ehrfurchtsvoll ihre Aufwartung zu machen, andererseits, um einen kurzen Blick auf das Geburtstagskind zu erhaschen, dessen mysteriöser Zustand die Gerüchteküche brodeln ließ.

      Ihrer Pflicht folgend, oblag es Ruprecht und seinen Vasallen, die Geschenke nach fragwürdigen Objekten, giftigen Substanzen oder gefährlichen Tieren zu durchsuchen. Im angespannten Klima, das seinerzeit in der Provinz herrschte, musste man auf böse Überraschungen gefasst sein.

      So durchlief jedes Präsent die Hände der Leibwache


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